Netflix-Filmempfehlung: Der Mann ohne Gravitation (2019)

Es gibt ein Subgenre im Bereich der romantischen Komödie oder des romantischen Dramas, das sich nicht erst seit Twilight großer Beliebtheit erfreut. Die Rede ist vom Liebesfilm mit fantastischem Twist. Und so formal das Romcom-Genre generell ist, so formal ist auch seine fantastische Unternische. Filme wie Die Frau des Zeitreisenden (2009), Der seltsame Fall des Benjamin Button (2008) oder Winter’s Tale (2014) folgen alle mehr oder weniger dem gleichen Muster: Kind mit irgendeiner übernatürlichen Eigenschaft zwischen Gabe und Fluch (praktisch immer männlich) verliebt sich in normales Kind (praktisch immer weiblich); sie verbringen wundervolle Kindheitstage miteinander, aber irgendwann trennen sich ihre Wege, bis sie sich im Erwachsenenalter wieder treffen. Dabei wird der Mann als der fantastische/begabte Part der Konstellation stets überhöht, die Frau wird mehr oder weniger zur Statistin im Leben des zentralen Protagonisten, der nicht nur lernt, mit seiner Außergewöhnlichkeit umzugehen, sondern in ihr auch die wahre Liebe findet. Ein nicht zu unterschätzendes Moment dieser Formalität ist, dass diese Filme – obwohl sie sich selbst eher an ein weibliches Zielpublikum adressieren – konsequent aus der männlichen Perspektive erzählt sind, selbst wenn sie in ihrem Titel mit einer weiblichen Perspektive werben oder ihre literarische Vorlage beide Perspektiven gleichberechtigt behandelt (beides ist bei der Frau des Zeitreisenden der Fall). Auch das italienische Netflix-Release Der Mann ohne Gravitation (2019) fällt in das Genre des Liebesfilms mit fantastischem Twist (Oder Fantasyfilms mit romantischem Fokus), und doch gelingt es diesem magisch realistischen Märchen sich in vielen Punkten von seinen amerikanischen Geschwistern abzuheben… im wahrsten Sinne des Wortes.

Dass der kleine Oscar (Pietro Pescara) ein ungewöhnliches Kind ist, wird seiner Mutter Natalia (Michela Cescon) und seiner Großmutter Alina (Elena Cotta) bereits bei seiner Geburt bewusst. Wie ein Engel fliegt er aus dem Mutterleib heraus und scheint komplett der Schwerkraft zu trotzen. Oscar schwebt, wie ein mit Helium gefüllter Ballon. Das einzige, was ihn am Boden halten kann, sind starke Seile oder Gewichte, mit denen sein Körper beschwert wird. Um den Jungen vor der Außenwelt zu schützen, behalten die beiden Frauen ihn konsequent zu Hause, erziehen und unterrichten ihn dort. Aber Oscar möchte die Welt kennen lernen und so lässt ihn seine Mutter schließlich doch in wohldosierten Zeiten in ihrer kleinen, italienischen Heimatstadt umherziehen. Bei seinen Erkundungen lernt er die gleichaltrige Agata (Jennifer Brokshi) kennen, die nicht nur Freundin sondern auch Mitwisserin um seine geheimen Kräfte wird. Das Kindheitsglück der beiden hält jedoch nicht lange an. Die Behörden werden auf Oscar aufmerksam und so beschließen Natalia und Alina mit ihm wegzuziehen, weit hinaus in die Berge, komplett isoliert von der Außenwelt. Dort reift Oscar zum kauzigen Erwachsenen heran (nun gespielt von Elio Germano), den Wunsch mit seiner Gabe an die Öffentlichkeit zu gehen, kann er jedoch nicht ablegen.

Ein bisschen ist L’uomo senza gravità – so der Originaltitel – schon ein Film, der in seinem Namen alles verrät, was das Publikum wissen muss. Im Zentrum steht Oscar und im Zentrum steht ganz und gar Oscars ungewöhnliche Eigenschaft. Gerade in ihrer ersten Hälfte spielt die Geschichte dann auch mit diesem speziellen menschlichen Wunder und generiert mit einfachen Mitteln wunderschöne Bilder. Das dem Mutterlieb entschwebende Baby, das Kleinkind, das es sich an der Decke der elterlichen Wohnung gemütlich macht, der Junge, der mit Gewichten beschwert vorsichtig erste Schritte übt. Das ist nicht nur schön anzusehen, sondern auch eine wunderbar stille, zurückhaltende Parabel auf das Großwerden an und für sich. Der Mann ohne Gravitation ist kein lauter, kein pompöser Film, sondern viel mehr ein schlichtes Werk im besten Sinne des Wortes. Hier muss keine tiefergehende Bedeutung übergestülpt und erst recht keine übertriebene Melodramatik entwickelt werden. Wo Filme wie Benjamin Button mit großen Pathos glänzen, ist dieser italienische Genrevertreter überraschend nüchtern und subtil geraten. Mehr noch, Regisseur Marco Bonfanti versucht sich größtenteils vom Fantasygenre fernzuhalten und erzählt stattdessen lieber irgendwo zwischen Realismus und magischem Realismus, ohne dass die Magie sich je allzu sehr in den Vordergrund spielen würde. Das Ergebnis ist insbesondere in den Kindertagen Oscars weitaus mehr Siegfried Lenz als Amelie Poulain, weitaus mehr Neorealismus als Traumfabrik.

Dieser Hang zum Leisen und Nachdenklichen wird in der zweiten Hälfte des Films, die den erwachsenen Oscar auf seiner Suche nach dem richtigen Platz im Leben begleitet, nicht aufgebrochen, sondern sogar noch radikalisiert. Auch wenn der Plot alle Ingredienzen des fantastisch/romantischen Kinos besitzt, versinkt Der Mann ohne Gravitation nie in den theatralischen, übernatürlichen Fahrwassern seiner Geschwister. Vieles, was geschieht, geschieht mit einem ruhigen, melancholischen Blick. Geschehnisse, die deprimierend sind, werden nicht mit großer kathartischer Geste weggewischt, sondern auch einfach mal stehen gelassen. Nicht jeder Widerspruch lässt sich auflösen und die Protagonisten und Protagonistinnen dürfen angenehm ambivalent bleiben. Gerade die Figur des Oscars ist dabei wundervoll nuanciert gezeichnet: Naiv ob seiner Isolation, aber auch mit dem unbedingten Willen mehr zu sein, natürlich leicht exzentrisch, aber nicht einfach nur strahlender Sympathieträger. Elio Germano haucht diesem fragilen und spannenden Charakter Leben ein, hält sich gestisch und mimisch meist zurück und erreicht dennoch – oder gerade deswegen – eine beeindruckende Leinwandpräsenz.

Ganz schafft es L’uomo senza gravità aber nicht, diese Tiefe zu halten. Sobald Oscar doch einen entscheidenden Schritt Richtung selbstbestimmtes Leben macht, beginnen sich einige Klischees in den Film einzuschleichen. Die Gegenüberstellung von idyllischem Land und hektischer, oberflächlicher Medienwelt ist in sich selbst ziemlich flach und oberflächlich geraten, ein in der zweiten Hälfte des Films ziemlich zentraler Charakter scheint zwischenzeitlich sämtliche Klischees eines stereotypen Antagonisten zu erfüllen und es steuert alles ein wenig zu sehr auf sentimentales Genrekino hin. Erstaunlicherweise gelingt es dem Film trotz eine Menge Trubels irgendwie wieder auf der richtigen Fahrspur zu landen. In dem Moment, in dem alles zu einer großen Klimax zusammenzulaufen scheint, findet er wieder zu einer ruhigen, besonnenen Erzählhaltung und kann sogar das obligatorische Romantikthema geschickt über die Ziellinie reißen, ohne dabei vor sich selbst das Gesicht zu verlieren. Auch wenn er in den Schlussminuten wieder etwas zu dick aufträgt, bleibt er doch genug seiner Motivik verpflichtet und dürfte ein zufriedenes Publikum hinterlassen.

Dieses findet den Film übrigens nicht im Kino, sondern bei Netflix, wo er bestens aufgehoben ist: Als einer der besten Exklusivtitel des Streaming-Giganten, als leiser, nachdenklicher und subtiler Film, der keine große Leinwand braucht, um zu glänzen. Als kleine europäische Filmperle, die kein komplexes Arthaus sein will, aber doch deutlich mehr Substanz besitzt als seine Gegenstücke jenseits des Atlantik. Als klassischer romantischer Fantasyschinken, der vielen Formalien des Genres folgt und sich dennoch einen eigenen Charakter bewahrt. Als sentimentales, fantastisches Kino, das Reflexion und Realismus atmet und somit auch Verächtern des Genres gefallen dürfte. Als einfacher Film, der alles gibt, was sein Titel verspricht, und dennoch in ausgewählten Momenten zu überraschen vermag.

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