Die andere Seite der Hoffnung (2017) von Aki Kaurismäki – Die Utopie am Rande

Der finnische Regisseur Aki Kaurismäki gehört zu den letzten großen sozialen Romantikern und Utopisten des europäischen Kinos. Seit den 90ern setzt er sich in seinen Filmen mit Randgruppen und Randfiguren der Gesellschaft auseinander, rückt diese ins Licht der Kamera und lässt all ihre Hoffnungen und Träume sichtbar werden. Dabei präsentiert er den sozialen Rand nicht als düsteres Moloch, in dem der Mensch des Menschen Wolf ist, sondern als utopischen Raum, in dem unterschiedliche Menschen zusammenfinden, sich miteinander solidarisieren und eine Gesellschaftsordnung neben der bestehenden Ordnung schaffen, die diese in vielerlei Hinsicht, vor allem aber aus humanistischer Perspektive, überfügelt. Dass seine Filme dabei eine gewisse Repetition aufweisen? Geschenkt. So lange Meisterwerke wie Der Mann ohne Vergangenheit oder zuletzt Le Havre dabei herauskommen, kann man gut und gerne darüber hinwegsehen. In letzterem hatte er sich schon zu Beginn des Jahrzehnts mit der Flüchtlingsthematik auseinandergesetzt, zu einer Zeit als das Thema bei weitem noch nicht so sehr im Fokus des öffentlichen Diskurses stand wie heute. Insofern macht es Sinn, dass er sich in seinem jüngsten Film – Die andere Seite der Hoffnung (2017) – noch einmal dezidiert mit des selben Themas annimmt; wieder am Rand der Gesellschaft, wieder mit trockenem Humor, wieder mit einer Kombination aus Romantik und Augenzwinkern. Kann die Kaurismäki’sche Formel auch noch 2017 im Angesicht von Flüchtlingskrisen, erstarkendem Rechtspopulismus und gesellschaftlicher Spaltung funktionieren?

Auf der Flucht über die Balkanroute hat der syrische Mechaniker Khaled (Sherwan Haji) seine junge Schwester verloren und ist über Umwege als blinder Passagier auf einem Frachtschiff in London gelandet. Dort hofft er auf Asyl, muss aber schnell feststellen, dass die britischen Behörden kein Interesse daran haben, ihm eine neue Heimat zu geben. Er landet in einem Aufnahmelager und soll schon bald abgeschoben werden. Mit Hilfe einer engagierten Sozialarbeiterin gelingt ihm jedoch die Flucht und er landet als illegaler Migrant auf der Straße Londons. Dort trifft er auf den ehemaligen Handelsvertreter Waldemar (Sakari Kuosmanen). Dieser hat es durch ein glückliches Händchen beim Poker zu einem kleinen Vermögen geschafft, mit dem er sich seinen Lebenstraum erfüllen will, ein eigenes Restaurant zu managen. Obwohl die beiden einen holprigen Start miteinander haben, gewährt Waldemar Khaled Obdach und Arbeit in seinem gerade neu eröffneten Lokal. Khaled freundet sich schnell mit Waldemar und seinen anderen Angestellten an und erlebt zum ersten Mal so etwas wie Hoffnung seit seiner entbehrungsreichen Flucht.

Hoffnung ist das große Thema von Aki Kaurismäkis Film, nicht nur im Originaltitel Toivon tuolla puolen, den man frei mit „Ich hoff über all das hinaus…“ übersetzen könnte, sondern auch in seiner ganzen narrativen Struktur und dramaturgischen Anlage. Khaled ist von seiner Flucht ermüdet, er ist resigniert, bewegt sich fast automatisiert von Situation zu Situation, und doch scheint da immer noch ein Funke Hoffnung vorhanden zu sein, dass alles besser werden kann. Waldemar ist die Verkörperung der Hoffnung im Kleinen: Ein einfacher Mann, ohne große Visionen, ohne große Utopien, der sich aber dennoch einen Lebenstraum erfüllt und sein altes Leben hinter sich gelassen hat. Es ist die Hoffnung im Kleinen, die hier großes bewirkt. Ohne großes Drama schenkt Waldemar Khaled nicht nur einen Unterschlupf sondern auch ein neues Leben. Seine Motivation bleibt dabei unklar: Ist es purer Altruismus? Sieht er in der trockenen Ruppigkeit Khaleds ein Stück von sich selbst? Freut er sich einfach über die Unterstützung in seinem Lokal? Oder steckt viel mehr der Zufall dahinter, es gibt keinen großen Anlass, und alles geschieht einfach, weil es sich so fügt? Diese Offenheit der Motivation sorgt dafür, dass Die andere Seite der Hoffnung seinen humanistischen Optimismus nie mit allzu sehr Dramatik auflädt. Die Themen Flucht, Asyl und Obdachlosigkeit sind schwere Themen, Kaurismäki bringt diese allerdings wieder einmal mit der lakonischen Leichtigkeit auf die Leinwand, die man auch aus seinen anderen Filmen kennt. Ergänzt wird das ganze durch skurrile, sympathische Charaktere, trockene und minimalistische Dialoge und eine Mischung aus Rock N Roll und Schlager… und ja, wir haben eigentlich wieder einen typischen Kaurismäki-Film vor uns.

Kaurismäkis leichtfüßige, wortkarge Herangehensweise an eine eigentlich ziemlich tragische Geschichte muss nicht jedem gefallen. Es wäre nicht schwer, dem Regisseur vorzuwerfen, unter seinem lakonischen Storytelling, soziale Missstände zu sehr auf die leichte Schulter zu nehmen. Gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge oder gar politische Botschaften werden maximal am Rand gestreift. Konkrete oder gar radikale Ansätze werden gar nicht erst aufgeworfen. Düster, pathetisch, kraftvoll wird Toivon tuolla puolen nie. Aber er hat andere Qualitäten auf der Habenseite. Dank des Verzichts auf das aggressiv Kämpferische hat die schlichteste, ergreifendste Form des humanistischen Gedankens hier ausreichend Platz, um sich zu entfalten. Auf der anderen Seite der Hoffnung geht es um Solidarität an unerwarteten Plätzen, um die Schönheit des einfachen Miteinanders, um die Hoffnung im Kleinen und um Freigebigkeit, die keinen großen theoretischen Rahmen benötigt. Und genau in diesem Punkt schleicht sich dann doch das Radikale ein, in Form eines radikalen Utopismus. Die Komplexität des Realismus dient Kaurismäki als Tableau, um darauf dann eigentlich ziemlich abgehobene Märchen zu erzählen. Ob dies eine sehr spezifische Form von magischem Realismus ist? Vielleicht. Der Ist-Zustand wird zwar gestreift, aber viel wichtiger scheint der Geschichte der Raum ihrer Möglichkeiten, die Option, dass eben doch alles über verschlungene Pfade gut werden kann. Es ist allerdings nicht die Gesellschaft, die sich hier verändert, und auch der einzelne Mensch scheint letzten Endes nur so zu handeln, wie es ihm durch seine Sozialisation möglich ist. Das Utopische an diesem Entwurf ist, dass sich nach Kaurismäki in der komplexen sozialen Wirklichkeit so etwas wie kleine Wunder ergeben können. Das Zusammenkommen von Waldemar und Khaled ist durch den Zufall bestimmt, hat keine irreale Komponente, aber aus diesem Zusammenkommen entwickelt sich ein Märchen, dessen Verbindung zur Wirklichkeit nur noch als lose bezeichnet werden kann. Die andere Seite der Hoffnung ist der Traum einer besseren Welt, die in unserer Welt stattfindet. Die andere Seite der Hoffnung ist im Grunde genommen das richtige Leben im Falschen, als wolle Aki sagen: „Schau mal Theodor, siehst du? Das ist doch möglich!“

Auch inszenierungstechnisch liefert uns Die andere Seite der Hoffnung 100% Kaurismäki. Love it or leave it! Narration und Schnitt sind langsam, getragen, ohne große Aufreger. Wie die Geschichte arbeiten die Schauspieler mit einem Maximum an Lakonik. Wobei hier dennoch der den Khaled spielenden Sherwan Haji hervorzuheben ist, der unter seinem ruhigen, gefassten Auftreten eine permanente Anspannung verbirgt, die seinen Charakter nicht nur zu einer sympathischen, greifbaren Identifikationsfigur werden lässt, sondern ihm auch eine Menge Ausdrucksstärke im minimalistischen Rahmen mitgibt. Szenen werden lange gehalten, werden nie zu leicht aufgelöst, immer wieder kommt es zu den von Kaurismäki bekannten awkward Moments, wenn niemand von den Protagonisten kommunikativ weiter weiß und die Szene dennoch nicht aufgelöst wird. Das sorgt immer wieder für komische Situationen, für einen spitzbübigen Blick auf das Funktionieren der Gesellschaft, der in anderen Tragikomödien zu Gunsten eines schnellen Flows gerne ignoriert wird. Gerade wenn man mit Kaurismäkis Werk nicht vertraut ist, kann dies aber auch irritierend, anstrengend oder gar langatmig wirken. Mit dieser Form von lakonischer, subtiler Tragikomik muss man schon klar kommen, sonst hat man nicht viel Freude an diesem Film. Aber sie funktioniert wieder, wie schon zuvor, selbst in den tragischsten, verzweifeltsten Momenten. Sie gibt auch die dem Film so wesentliche Hoffnung mit, sagt selbst im dunkelsten Geschehen, dass sich schon alles irgendwie irgendwo fügen wird.

Die andere Seite der Hoffnung mag eine Utopie sein, ein Clash von nostalgischem Humanismus mit den Realitäten des hier und jetzt. Aber sie ist keine unrealistische Utopie, kein ärgerlich überspitzter Entwurf. Sie ist glaubwürdig und authentisch in ihrer Konzentration auf die besten Seiten des Menschen. Sie ist einladend und umgarnend. Ein Märchen, ja! Aber ein Märchen, wie es unsere Gesellschaft manchmal braucht, und ein Märchen – davon gelingt es dem Film uns zu überzeugen -, das auch im hier und jetzt immer wieder Realität werden kann.

Ähnliche Artikel