Soul (2020) – Pixar goes Jazz

In mehr als nur einer Hinsicht ist Jazz das amerikanische und vor allem afroamerikanische Pendant zur klassischen Musik Europas. Nicht nur was Variationsvielfalt und historische Bedeutung betrifft, nicht nur was das Andocken an ein bildungsbürgerliches Publikum angeht, sondern auch seine Rolle als Genre, dass sich einem Mainstreampublikum entzieht, während es die Kenner*Innen zum Schwärmen verleitet. Jazz ist eigentlich – für mich und für viele andere wahrscheinlich auch – typische „Sollte ich mal öfter hören“-Musik. Eine musikalische Gattung, die faszinieren und begeistern kann, aber eben auch eine musikalische Gattung, die sich wegen ihrer schieren Größe dem einfachen Zugang entzieht. Ein bisschen scheint seine Rezeption damit verbunden, dass man das Gefühl hat, dazu erst einmal mehrere Semester Musik studieren zu müssen, ob dieses Gefühl nun gerechtfertigt ist oder nicht. Nichtsdestotrotz haben sich seit jeher Menschen daran versucht, die Faszination am Jazz an ein größeres Publikum zu vermitteln: In Fachbüchern, in Sachbüchern, in Infotainment-Formaten, in Romanen und nicht zuletzt auch in Filmen. Gerade fiktionale Stoffe haben dabei die beste Chance, die Großartigkeit der Musik zu vermitteln, ohne dabei zu didaktisch und pädagogisch rüberzukommen. Und wenn es einen Meister im Vermitteln schwieriger Stoffe und Motive im leichten Gewand gibt, dann ist es ohne Zweifel Pixar. Immer wieder wenn sich die Disney-Tochter an komplexe Inhalte wagt, überrascht sie damit, diese leicht und dennoch mit der notwendigen Tiefe auf der Leinwand umzusetzen: Egal ob Depressionen,Trauer, Umweltverschmutzung oder der Tod an und für sich. Heiße Eisen werden in den Händen Pixars zu Butter. Gerade das letztgenannte heiße Eisen – der Tod – war in den letzten Filmen dauerpräsent und ist es auch in Soul (2020). Und dann auch noch angereichert mit dem komplexen musikalischen Genres des Jazz… Klingt schwierig, aber wie meistens bei Pixar erwartet man gerade deswegen eigentlich nur das beste.

Joe Gardner (im Original gesprochen von Jamie Foxx) liebt die Jazzmusik und obwohl er sich schon in der Mitte seines Lebens befindet, hat er nie ganz den Traum loslassen können, selbst Jazzmusiker zu werden. Dennoch verdient er sein Geld als Musiklehrer und weiß auch nicht so recht, ob er begeistert darüber sein soll, dass er ein Angebot bekommt, unbefristet und Vollzeit in dieser Lehrtätigkeit zu arbeiten. Da kommt es gerade recht, dass sich einer seiner ehemaligen Schüler mit der Bitte meldet, Joe solle als Ersatzpianist bei einem Gig mit der berühmten Dorothea Williams einspringen. Das Vorspiel für den womöglich wichtigsten Auftritt seines Lebens läuft hervorragend, und Joe ist voller Hoffnung, seinen Lebenstraum endlich wahr werden zu lassen. Umso größer ist der Schock, als er unterwegs in den Straßen New Yorks urplötzlich in einen offenen Gully fällt und bei dem Sturz ums Leben kommt. Joe findet sich in seiner Seelenform wieder und reist mit vielen anderen Verstorbenen Richtung Jenseits. Nicht in der Lage sich mit seinem Ableben zur falschen Zeit abzufinden, flüchtet er von der himmlischen Rolltreppe und landet im so genannten „Great Before“, das zwischen Diesseits und Jenseits liegt. Hier werden junge, ungeborene Seelen von Mentoren auf ihren Eintritt in das menschliche Leben vorbereitet. Joe wird für einen Mentor gehalten und bekommt die Seele 22 (gesprochen von Tina Fey) zugewiesen. Diese hat schon eine ganze Reihe Mentoren verschleißt und hat keinerlei Interesse daran, geboren zu werden. Joe, der nach wie vor hofft, ein Loophole zurück ins Leben zu finden, versucht die zynische 22 für die Schönheit des Diesseits zu begeistern und gleichzeitig durch irgendein Schlupfloch auch wieder in diesem zu landen.

Soul hat nicht nur zu Beginn eine Menge Spaß daran, sein Publikum auf falsche Fährten zu locken. Ohne Pause baut er Schicht um Schicht eine Geschichte auf, um dieser dann ganz plötzlich einen Schub in eine komplett andere Richtung zu geben. Was zuerst noch wie eine sehr traditionelle Tragikomödie über einen Musikliebhaber und Träumer daherkommt, entwickelt sich für Publikum und Protagonisten gleichermaßen abrupt zu einem fantastischen Trip ins Jenseits. Was sich dort als eskapistisches Enjoy Life Märchen zu entwickeln scheint, wird mit einem ziemlich harten, unerwarteten Cut zur albernen, mit Slapstickmomenten vollgepackten Body Switch Komödie. Und auch diese verharrt nicht in ihrem Setup. Trotzdem hat man bei Soul nie das Gefühl, dass die Geschichte zu viele Kapriolen schlägt oder gar in ihrem Fluss zerfleddert. Dafür sorgt vor allem die Animationsarbeit, die – man muss es eigentlich gar nicht erwähnen, tut es trotzdem immer wieder – Pixar typisch exzellent geworden ist. Der Stil, der den Film prägt, ließe ich am ehesten als magischer Realismus bezeichnen: So sind die Figuren im Diesseits äußerst vergnügt, fast schon cartoonhaft animiert: Große Körperteile, ausufernde Extremitäten und schlacksige Bewegungen in extrem bunten Farben gezeichnet. Die Handlung indes hat nichts von einem Cartoon, sondern wirft einen für Kinder- und Familienfilmverhältnisse schon fast zu ernsten Blick auf künstlerische Ambitionen und Leben in der Midlife Crisis. Im Jenseits verbindet Soul dagegen das Cartoonhafte mit einer traumwandlerischen, märchenhaften Leichtigkeit. Alles ist in mit einem leichten Leuchten versehene Pastellfarben getaucht. Die umherlaufenden Seelen kommen als geisterhafte Manifestationen menschlicher Körper daher. Während Joes Seele, wie die der anderen Mentoren, eng verwandt ist mit seiner physischen Erscheinung, wirken die ungeborenen Seelen wie kleine unbedarfte Kinder mit einem fast schon brutal niedlichen Auftreten. Umso entzückender ist da dazwischen die zynische und abgeklärte 22, mit ihrer Mischung aus rotzfrecher Jugendlichkeit und starrköpfiger Altklugheit.

Noch mitreißender als die visuelle ist allerdings die musikalische Ebene. Wie sein Protagonist liebt und umarmt Soul den Jazz. Verantwortlich dafür ist vor allem der aus der Late Show mit Stephen Colbert bekannte Jon Batiste, der die Jazz Arrangements und Kompositionen zugeliefert hat, die Soul immer wieder mit tiefer musikalischer Hingabe füllen. Dabei gelingt Soul das, was viele Filme für ein erwachsenes Publikum nicht hinkriegen: Er vermittelt, warum Jazz so etwas Faszinierendes, Spannendes und einfach nur Wunderschönes ist: Zwischen Struktur und Improvisation, zwischen intellektueller Herausforderung und vitalem Eskapismus. Soul spendiert seinem Publikum gleich eine ganze Hand voll Szenen, in denen Jazzmusiker, Jazzmusikerinnen, Zuhörer und Zuhörerinnen sich von der Musik einfach nur dahintreiben lassen, während ihre Finger über die Tasten sausen, oder sie ergriffen noch nie gehörten Klängen lauschen. Und wir als Publikum lassen uns nur allzu gern von dieser Faszination mitreißen, vom Jazz in die Zone entführen, wo Diesseits und Jenseits aufeinandertreffen. Interessant ist auch die Entscheidung des Films, die Jazzklänge mit einem sphärischen Score zu begleiten, für den Trent Reznor und Atticus Ross verantwortlich sind. Dieser ergänzt in seiner atmosphärischen Vagheit und magischen Transzendentalität perfekt das Vitalistische und Atemberaubende der Jazzkompositionen. Nicht nur auditiv sondern auch dramaturgisch ist Soul einfach mal Jazz. Die lose Struktur, das scheinbar improvisatorische Moment, das Mäandern zwischen den Genres und das Überraschen mit neuen Kapriolen… wie eine gute Jazzperformance tanzt Soul von Party zu Party und kann über seine gesamte Laufzeit bestens unterhalten.

Dennoch gelingt es ihm nicht ganz an die letzten Pixar-Meisterwerke heranzureichen. Das liegt vor allem an seinem World Building. Die Welt, die Soul entwirft, ist bei weitem nicht so rund, in sich geschlossen und plausibel wie das in Coco präsentierte Jenseits oder das in Inside Out konstruierte Innenleben. Dafür schlägt Soul doch den ein oder anderen Bogen zu viel, baut eine Mischung aus Jenseits und Diesseits aus Afterlife und Beforelife auf, die in sich seltsame Logiklücken enthält. So manches passt nicht so ganz zusammen, manches wird nicht befriedigend erklärt, und die Geschichte und Welt wirkt alles in allem zu verschlungen. Komplexitätsreduktion hätte Soul an der ein oder anderen Stelle gut getan, gerade was die Verknüpfungen von Diesseits und Jenseits betrifft. Seine zweite große Schwäche ist das etwas zu gefällige Ende, bei dem Soul anscheinend Angst vor seiner eigenen Courage hatte. Hier hätte der Film dem Publikum ruhig ein bisschen mehr Bitterkeit, ein bisschen mehr Träne zum Lächeln zumuten können. Gerade weil Soul ein so erwachsener Film ist, kaum noch als Kinder- und Familienunterhaltung durchgeht, wirkt es ein wenig feige, am Schluss so sehr auf die Kindergarten/Weichzeichner-Variante zu setzen. Aber das sind dann doch auch kleine Nitpicks. Alles in allem ist Soul wieder mal ein fantastischer Pixar Film, mit Jazz im Blut und Jazz in der Seele. Eine tolle Mischung aus Fantasy, Tragikomödie, Feel Good Movie, Musikliebhaberei und vielem mehr. An manchen Punkten das Erwachsenste, was es bisher von Pixar zu sehen gab, und ein wunderschönes Werk, das sein Publikum mit durch und durch angenehmen Gedanken entlässt. Schade nur, dass man gerade keine Jazz Clubs aufsuchen kann, denn genau darauf hat man nach Soul am meisten Lust.

 

Diesen Film haben wir auch in unserem Podcast besprochen.

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