Die Eiskönigin – Völlig unverfroren (2013) – Disneyfeminismus, Musicalterror und leuchtende Kinderaugen
Die vier wesentlichen Fragen bei der Rezeption von Disneys Animationsüberflieger Frozen (2013) – okay ins Deutsche übersetzt mit Die Eiskönigin, völlig plemplem ergänzt mit dem Untertitel Völlig unverfroren – sind: Wie oft muss man von einen Titelsong genervt werden, bis man nicht mehr unvoreingenommen den dazugehörigen Film schauen kann? Wie viel Musical traut sich Disney im Jahr 73 nach Fantasia? Wie viel Feminismus kann Disney? Und last but not least, wie stark beeinflussen leuchtende Kinderaugen die Rezeption eines Animationsfilms? Die Antworten darauf in aller Kürze: 127 Mal; überraschend viel; erwartungsgemäß wenig; ausgesprochen stark. Nun gut, mit dieser rudimentären Rekapitulation wird man diesem Überraschungshit natürlich nicht gerecht, aber das hätten wir damit zumindest vorweg schon mal geklärt. Frozen kam im Jahr 2013 in die Kinos und wurde schnell zu DEM Film für alle nach 2009 Geborenen. Mehr noch, es hat in den letzten Jahren wenige Animationsfilme gegeben, die derart breit und enthusiastisch rezipiert wurden: Songs, ästhetisches Konzept und natürlich auch Geschichte; geliebt und gehasst von 0-99 Jahren, besprochen von so ziemlich jedem, die Kaufhäuser gefüllt mit Merchandisingmaterial und gefühlt auf jedem zweiten Kindergartenrucksack zu sehen. Aber wie weit ist der Hype gerechtfertigt? Und helfen die oberen Antworten, diesen zu verstehen und vielleicht sogar nachvollziehen zu können?
Prinzessin Elsa besitzt eine ebenso unheimliche wie fantastische magische Gabe. Mit ihren bloßen Händen kann sie Schnee und Eis erzeugen und setzt diese Fähigkeiten auch begeistert ein, um sich und ihrer jüngeren Schwester Anna wunderschöne Winterspielplätze im königlichen Schloss von Arendelle zu zaubern. Ein unglücklicher Unfall, der Anna fast das Leben kostet, ändert jedoch alles. Elsa wird von ihren Eltern fortan gezwungen ihre Kräfte zu verbergen und nie wieder zu benutzen; Anna werden alle Erinnerungen an die magischen Spiele genommen. So wachsen die beiden Schwestern nebeneinander auf, ohne jemals wieder die Nähe zueinander zu gewinnen, die sie als kleine Kinder hatten. Selbst der Verlust der Eltern kann daran nichts ändern. Doch dann kommt der Tag, an dem Elsas Krönung ansteht. Überfordert von der plötzlichen Aufmerksamkeit durch das Volk und mit Annas Schwärmen für den jungen Prinzen Hans konfrontiert, verliert sie die so lange gehaltene Kontrolle über ihre magischen Kräfte, verwandelt ungewollt das ganze Königreich in eine Eislandschaft und flieht in das nahegelegene Gebirge. Anna möchte ihre Schwester nicht aufgeben und folgt ihr in die Schneelandschaft, wo sie Bekanntschaft mit einem Eislieferanten, einem lebenden Schneemann und allerhand anderer winterlicher Gestalten macht.
Also kommen wir nochmal zu den wesentlichen Punkten zurück.
Let it go… ja, Let it go. Noch nie hat ein Film der Disney Animation Studios einen derart durchschlagenden Pop-Hit hervorgebracht. Klar, da gab es „Hakuna Matata“ und „Under the sea“, da gab es noch mehr in der Popwelt verankert „Can you feel the love tonight“, aber auch das ist nichts im Vergleich zum vom Lopez-Ehepaar komponierten und im Film von Idina Menzel gesungenen Pop-Hit. „Let it go“ war nicht nur zum Releasezeitpunkt von Frozen omnipräsent, sondern auch danach. Als Pophymne von Demi Lovato für das Radio weiterverwertet, von unzähligen DSDS/Pop-Idol/Got-Talent-Sänger*innen in der Folgezeit drangsaliert und mit Oscar, Golden Globe und Grammy ausgezeichnet. Let it go ist ein Popphänomen, wie es noch kein Disneyfilm zuvor erlebt hat, und dementsprechend auch bis zum Überdruss totgenudelt. Aber, auch wenn es leicht ist von dieser pathetischen Schnulze genervt zu sein, verdammt ist das ein guter Song: Beginnend in zarten, verletzlichen und fragilen Moll-Tönen arbeitet er sich langsam zur imposanten Dur-Hymne hoch, peitscht mit einer für eine Powerballade ungewöhnlich hohen Geschwindigkeit nach vorne und ist bei all seinem Pathos catchy as hell. Als zentraler Moment des Films begleitet er Elsa, die zum ersten Mal in ihrem Leben ihren Kräften freien Lauf lässt, und wird so zur Hymne auf Selbstbefreiung und Selbstermächtigung. Let it go ist in der Tat ein starker Song, weil er Schwäche und Gefühle der Eiskönigin mit ihrer Stärke und Selbstgewissheit kreuzt. Er ist eine Ode dafür, man selbst zu sein, und sorgt in Verbindung mit seiner wundervoll opulenten Szene für wohlige Gänsehautmomente. In der Tat eine ganz große Verbindung von Musical, Pop und Operette.
Womit wir bei der Frage zu dem Musicalcharakter des Films wären. Ja, Die Eiskönigin ist ein Disney-Musical, wie es schon lange kein Disney-Musical mehr gab. Gerade in seiner ersten Hälfte ist sowohl Anzahl der Songs als auch der Eifer, mit dem diese Songs die Story voranbringen, fast schon erdrückend: Die pompöse Eröffnungssequenz der Eisschneider und -verkäufer, die Kindheit von Elsa und Anna, die sich von ihrer Unbeschwertheit hin zur gegenseitigen Entfremdung entwickelt, Annas Freude über die Öffnung des königlichen Palastes anlässlich Elsas bevorstehender Krönung, das Zusammentreffen von Anna und Hans… all diese wesentlichen Storyelemente werden in musikalischer Form erzählt, derart dominant, dass klassische Narration und Inszenierung kaum noch Platz zu finden scheinen. Das funktioniert im Grunde genommen ganz gut, da es sich durch die Bank um starke Musicalnummern handelt, allerdings verliert und verfängt sich der Film in seinen ersten Akten etwas in seiner märchenhaften Musikalität, die sehr viel der wesentlichen, hier zu setzenden emotionalen Wegfeiler allzu stark entschärft. Das rächt sich vor allem im späteren Verlauf der Handlung, die das musicaleske Moment plötzlich tatsächlich auf 0 herunter dreht, dabei aber nie die fehlende dramatische Exposition auffangen kann. Disney traut sich hier überraschend viel Musical, vergisst dabei aber, eine emotionale Bindung zu den Protagonistinnen herzustellen. Viel zu lange bleiben Elsa und Anna Schablonen für die exquisite musikalische Untermalung, die über das Geschehen drüber rauscht.
Aber, heh. Immerhin haben wir hier zwei Protagonistinnen, eine mit dem Zeug zur Schurkin und eine mit dem Zeug zur Heldin. Und als sich Anna schließlich entschließt, ohne männliche Hilfe auf die Suche nach ihrer Schwester zu gehen, ist das zwar keine cineastische Revolution, aber doch deutlich mehr als man von einer Disney-Prinzessinnengeschichte erwarten würde. Also, wie viel Feminismus erlaubt sich Frozen mit dieser Prämisse? Leider dann doch relativ wenig. Denn so erfrischend stürmisch die Charakterisierung von Elsa und Anna zu Beginn noch ist, so konventionell wird sie doch in vielen Punkten im weiteren Verlauf der Handlung. Dabei bemüht sich der Film wirklich, verwandelt Annas Schwärmen für einen Prinzen, den sie gerade mal drei Sekunden kennt, in eine wundervolle kitschige Karikatur, lässt Elsas Kräfte nicht nur funkeln sondern auch lebensgefährlich sein, ja, traut sich sogar dem „Wahre Liebe kann den bösen Zauber brechen“-Topos einen netten Twist zu geben. Aber was bringt das alles, wenn er an anderer Stelle in all die Klischees zurückfällt, die man aus den Disney-Märchen kennt? Natürlich begegnet Anna auf der Suche nach ihrer Schwester einer Art tumbem Krieger. Und natürlich gibt es eine romantische Entwicklung zwischen den beiden. Natürlich sind die in der weißen Wildnis entstehenden Bedrohungen wieder klassisch maskulin konnotierte Bedrohungen und natürlich werden diese auf maskuline Art bekämpft. Das wäre vielleicht nur halb so ärgerlich, wenn die (hier kaum wiedererkennbare) Vorlage von Hans Christian Andersen Die Schneekönigin (1844) über 150 Jahre früher nicht so viel mehr getan hätte, um eine märchenhafte Geschichte mit weiblicher Perspektive zu erzählen: Denn dort gab es eine mutige Protagonistin ohne männlichen Begleiter, dort gab es wilde Räuberinnen, ein toughes Räubermädchen und eine mächtige Antagonistin, Probleme wurden mit der Macht der Sprache und mit Verhandlungsgeschick gelöst, und die größte Bedrohung war weniger physischer als viel mehr emotionaler Natur. Davon ist in Disneys Eiskönigin wenig zu sehen. Auch wenn Anna als tapfere Heldin und Role Model taugt, auch wenn Elsa zumindest die Grundlagen für einen interessanten, ambivalenten Villain hergibt, nützt dies nicht, wenn drumherum alles nach den bekannten Schemata formiert wird.
Aber, das ist natürlich kein Gender Studies Seminar, sondern immer noch ein Disneyfilm. Und diese nach politischen oder moralischen Maßstäben zu beurteilen, war immer schon schwierig, konnte schon immer nur für Frust und Ärger sorgen. Also wie performt Frozen als Disneyfilm und was haben leuchtende Kinderaugen damit zu schaffen? All den kritischen und skeptischen Ballast zur Seite geworfen und den Film mit den Augen eines Kindes oder durch die Augen eines Kindes – beziehungsweise die Augen eines Kindes beim Schauen des Films – betrachtet, ist das Urteil eigentlich klar: Frozen ist wieder einmal ein fantastisches Disneymeisterwerk, das ohne Zweifel in die Ahnengalerie neben Snow White, Lion King und Aladdin aufgenommen werden darf. Mehr noch, die Eiskönigin ist endlich mal wieder ein Disney-Film, der sich und sein Sujet ernst nimmt, keine Angst vor ungebrochenem, großen und melodramatischem Zeichentrickpathos hat. Nachdem seit Ende der 90er selbstreferenzieller Humor (Ein Königreich für ein Lama), ironische Brechung (Rapunzel) oder eine allzu gelassene Bräsigkeit (Himmel und Huhn) Einzug in den Disney-Kosmos gehalten hatten, darf in Frozen so groß und gewaltig erzählt werden wie seit „Die Schöne und das Biest“ nicht mehr. Okay, das Pacing wurde vom Studio tatsächlich etwas versemmelt, zu viel Musical in den ersten, zu wenig Musical in den letzten Akten. Aber dafür stimmt das Scaling, das Disney-typisch endlich mal wieder mit schierer Größe daherkommt. Die gewaltigen Berg- und Winterlandschaften, die unheimlich inszenierten Bedrohungen von den hungrigen Wölfen über das fürchterliche Schneemonster bis hin zu den Schergen, die der Eiskönigin den Garaus machen wollen, die herausragenden Szenarien, von der imposanten Eisschneider-Ouvertüre bis zum magischen Trollreigen; das ist alles so herrlich anachronistisch, das man sich auch als erwachsener Zuschauer in die schönsten Disney-Kindheitserinnerungen zurückgeworfen sieht.
Frozen ist eben auch so bezaubernd, weil es wirklich lange her ist, dass ein solch klassischer Disney-Film im Kino zu sehen war. Er besitzt alle Ingredienzen, die einen Disneyklassiker auszeichnen: Den Pathos, die schwindelerregende Action, die Auseinandersetzung mit Verlust, der Humor, die skurrilen Sidekicks (die hier Gott sei Dank deutlich weniger penetrant sind als in anderen Disneyfilmen). Im Gegensatz zu den letzten Bemühungen, moderne Filme zu schaffen, die im digitalen Zeitalter mithalten können, ist Frozen angenehm aus der Zeit gefallen, wunderbar zeitlos und trotz 100% Computeranimation ein deutlich traditionellerer Disney-Zeichentrickfilm als die letzten handgezeichneten Werke der Company. Und als traditionelles Werk funktioniert Frozen in der Tat hervorragend bei einer großen Altersspanne. Während letzte Zeichentrick- und Animationswerke gerne mal ältere oder jüngere Zuschauer als Zielpublikum ausklammerten, ist Frozen schon so konsequent für 0-99 Jahre. Und jeder darf sich das mitnehmen, was am besten zu seinem Alter passt: Die beeindruckenden und wunderschönen Bilder und Gesangseinlagen für die jüngsten, die Action und Dramatik im Mittelteil für die älteren Kids, und die Freude über ein bisschen mehr Empowerment als üblich und einen gar nicht sooo vorhersehbaren Plottwist für die erwachsenen Zuschauer. Das mag sich dann hin und wieder wie der kleinste gemeinsame Nenner anfühlen, so lange aber die Kinderaugen leuchten und die Erwachsenenaugen sich in Kinderaugen zurückverwandeln, ist der kleinste gemeinsame Nenner gar nicht so verkehrt. Frozen ist nicht vielleicht der beste Film der Animation Studios und Meisterwerkreihe, aber er ist wenigstens ein Film dieser Kategorie; und auf diesen mussten wir so lange warten, das es eine wahre Freude ist, Good Ol‘ Disney ein „Welcome back“ zu wünschen. Frozen ist der Schneewittchen/Alice/Arielle dieser Generation und hat – trotz aller Schwächen – das Zeug zum Animationsklassiker.
Diesen Film haben wir auch in unserem Podcast besprochen.
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