Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer – Michael Endes Buch (1960) vs. Augsburger Puppenkiste (1976) vs. Kinofilm (2018)

Mein erster Kontakt mit den Figuren Jim Knopf, Lukas dem Lokomotivführer, ihrer Lokomotive Emma sowie den anderen Charakteren aus Lummerland, Mandala und der Drachenstadt geschah wie wohl bei vielen anderen Kindern, die in den 80ern groß wurden, nicht über den Roman von Michael Ende sondern seine äußerst berühmte Verfilmung durch die Augsburger Puppenkiste (die 70er Variante in Farbe, um das noch schnell klarzustellen). Wie ich viele Jahre, wohl eher Jahrzehnte, später feststellen sollte, macht das auch total Sinn. Der Roman Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer (1960) ist nicht einfach nur eine Kindergeschichte; das auch, ja. Aber viel mehr ist er eine bissige, anarchische Satire auf die Gesellschaft, Wirtschaft und Politik seiner Zeit. Wild, wüst, obrigkeistkritisch, subversiv, und zugleich dennoch äußerst imaginativ und fantastisch. Die Verfilmung der Augsburger Puppenkiste (1977) dagegen ist mehr als nur eine Interpretation, die auf das politische Moment der Vorlage verzichtet: Sie ist anschmiegsam, liebreizend, ja, eine Infantilisierung des Stoffes, sowohl im positiven wie im negativen Sinne. Im Grunde genommen eine fantastische Geschichte für die Kleinsten (Mein Dreijähriger steht schon total drauf), die die Struktur der Vorlage nutzt und damit etwas komplett neues schafft. Etwas, was in seinem eigenen engen Korsett durchaus funktioniert. Und dann gibt es ja auch noch, seit mittlerweile gut einem Jahr, die neue Realverfilmung Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer (2018) mit ordentlich Budget aber auch Einfallsreichtum im Rücken, um den Stoff erneut komplett neu oder zumindest ein wenig anders zu interpretieren. Grund genug die drei äußerst erfolgreichen Werke einmal nebeneinander zu halten.

1.) Die Story

Die ist bei allen drei Varianten – wie sollte es auch anders sein – nahezu identisch: Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer verlassen gezwungenermaßen ihre idyllische und kleine Heimatinsel Lummaland und erleben auf ihrer Reise mit der Dampflok Emma spannende Abenteuer. Wobei sie nicht nur in exotischen Ländern landen, sondern zudem die Möglichkeit erhalten, eine Prinzessin aus einer finsteren Drachenstadt zu retten und Geheimnisse aus Jims Vergangenheit aufzudecken. Natürlich arbeiten sowohl die 1970er Variante als auch die neue Verfilmung mit einigen Auslassungen, einigen Verkürzungen und gelegentlichen Fokusverschiebungen, diese sind aber alles in allem relativ marginal. Am ehesten kann man konstatieren, dass die 70er Variante etwas stärker im Lummerland hängt und auf dieses öfter referiert als die Vorlage und der 2018er Film, bei denen das Abenteuer und Erleben der Fremde stärker im Mittelpunkt stehen. Aber storytechnisch machen diese Referenzen relativ wenig aus. Das soll dann aber auch wirklich die einzige Ähnlichkeiten zwischen den drei Interpretationen bleiben. Änderungen setzen nämlich schon ganz fundamental und früh ein…

2.) Das Genre

…z.B. beim Genre, in dem die Geschichte erzählt wird. Hier sei nochmal auf den satirischen Aspekt der Romanvorlage verwiesen: Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer ist ein Roman seiner Zeit, der die damals brennenden Themen aufgreift und zugleich perfekt in universelle Weisheiten transformiert. Man merkt fast jeder Seite des Buches an, dass es nicht nur mit sehr viel Imaginationskraft geschrieben wurde, sondern auch mit einer nicht zu verhehlenden Wut im Bauch. Bereits die eigentlich idyllische Heimat von Jim Knopf und seinem Freund Lukas steckt voller bissiger Zitate auf Staat und Gesellschaft. Da ist der König, der den ganzen Tag nichts anderes macht als zu telefonieren und von einem Bevölkerungszuwachs um eine Person hoffnungslos überfordert ist. Da ist der Herr Ärmel, der ein Untertan ist und sonst keine besondere Charaktereigenschaft aufweist. Und es endet nicht da. Mit der Zwangsbeschulung durch den Drachen Frau Mahlzahn setzt sich Michael Ende auf ungehörig anarchische Weise mit dem Bildungssystem auseinander. Und in der Fremde treffen Jim und Lukas keineswegs auf exotistische Erlösungsutopien sondern auf die selbe Korruption, Heuchelei und die selben Lügen, die auch in der Heimat zu finden sind. Jedes neue Szenario, in das Michael Ende seine Protagonisten stolpern lässt, hält neue satirische Momente bereit: Mal subtil (Nepomuk), mal voll auf die Fresse (die Bonzen), mal mit ernster Traurigkeit (der Scheinriese Tur Tur).

Erwähnenswert sind diese satirischen Spitzen allerdings nicht, weil sie so omnipräsent wären, sondern weil sie in der Augsburger Puppenkiste praktisch komplett fehlen. Denn trotz seine satirischen Stärke kippt der Roman nie zu sehr in Richtung groteskes Gesellschaftsporträt. Der Roman ist von den dreien der, der die Balance zwischen Fantasy, Abenteuer, Comedy und Politik am besten gehandlet kriegt. Weder 1977 noch 2018 können mit diesem perfekten Genrecrossover mithalten. Die 1977er Variante dagegen ist ein astreiner Kinder- und Familienfilm, der sich vor allem im komödiantischen Bereich am wohlsten fühlt. Die satirischen Aspekte werden hier komplett zurückgefahren zu Gunsten von Situationskomik und Wortwitz ohne politischen Hintergrund. Klar, gibt es auch hin und wieder für die älteren (Mit-)Zuschauer was zu schmunzeln, aber auch die erwachseneren Witze bleiben relativ zahn- und gehaltlos.

Die 2018er Variante ist da durchaus mutiger: Hier wird Herr Ärmel nicht zum netten Fotografen umgedeutet, sondern muss Untertan bleiben, und auch Mandala und die Drachenstadt besitzen weitaus mehr von dem Schneid der Vorlage als ihr braves 70er Jahre Pendant. Aber auch in der Neuverfilmung findet eine deutliche Fokusverschiebung statt. Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer von 2018 legt einen deutlichen Schwerpunkt auf das fantastische Abenteuer. Wo sowohl Vorlage als auch Puppenkiste angesichts großer Gefahren oft gelassen und augenzwinkernd bleiben, fährt die Neuinterpretation ordentliche Blockbustergeschütze auf. Sie ist genretechnisch weitaus näher an Harry Potter und Fluch der Karibik als an ihrem Ursprung und damit ein astreiner, epischer Familienfantasyfilm des neuen Jahrtausends.

3.) Die Atmosphäre

Das wirkt sich besonders auf die Atmosphäre aus. Hier hat die Neuverfilmung tatsächlich viele Trümpfe in der Hand. Sie ist weder so bieder wie die Puppenkiste, noch so ironisch wie der 60er Roman. Denn so bissig und fantastisch die Vorlage auch ist, Immersion ist nicht ihre Stärke. Dafür legt Michael Ende viel zu sehr den Fokus auf das Bizarre, Verrückte, mitunter Surreale. Das unterhält ungemein, lässt den Roman zu einem der kurzweiligsten Märchenerlebnisse des 20. Jahrhunderts werden, beraubt ihn aber auch ein bisschen der Chance tatsächlich eine emotionale Nähe zu seinen Figuren aufzubauen. Mitfiebern ist da eher Beiprodukt, weniger immanent in der Geschichte vorhanden.

Ganz anders 2018: Klar, man kann drüber meckern, dass die CGI der Vorlage ihre Vorstellungskraft raubt (wurde auch in einigen Rezensionen getan), aber das ist doch einfach mal verdammt nochmal die Aufgabe einer Verfilmung: Die auf den Buchseiten und in der Fantasie der Leser vorhandenen Bilder in echte Bilder verwandeln. Und das macht der Film von Dennis Gansel verdammt gut. Wie er in wenigen geschickt geschnittenen Zugfahrten Lummerland zum Leben erweckt, wie er aus Mandala ein wahrhaft großes Königreich voller fremd scheinender Menschen und Rituale macht, wie er die Drachenstadt in ein düsteres Ende der Welt verwandelt, das verdient schon eine Menge Respekt. Gerade wenn man die minimalistische Puppenkiste daneben hält, wird deutlich, wie sehr diese bombastische Bebilderung dem Stoff gut tut. Allerdings geht dadurch ein wenig die Spitzbübigkeit des Buches verloren. Bei all den dramatischen Situationen, Gefahren und Schrecken, die Jim und Lukas dort erleben, ist doch immer klar, dass es sich um ein großes, spaßiges Abenteuer handelt, dass es wert ist, erlebt zu werden. Im epischen Fantasysetting des neuen Films, erhält das Abenteuer der beiden eine Dringlichkeit und einen Ernst, der ein wenig auf Kosten des Spaßes und des puren Staunens geht.

4.) Die Charaktere

Es mag vielleicht hart klingen, aber wirklich nuanciert ausgearbeitet sind die Charaktere in Michael Endes Roman nicht. Abgesehen von den beiden Protagonisten Jim und Lukas kommen die einzelne Figuren kaum über eine schablonenhafte, auch ein wenig stereotype Charakterzeichnung nicht hinaus. Das liegt unter anderem auch aber nicht nur an dem satirischen Grundkonzept des Romans: Der devote Untertan Herr Ärmel, der allzeit beschäftigte, schusselige König, die gierigen und egozentrischen Bonzen in Mandala… geschenkt. Aber auch Sympathieträger wie die Prinzessin Li Si, das intelligente Kindeskind Ping Pong oder der sympathische Scheinriese Tur Tur bleiben einfache Abziehbilder, die vor allem dem Staunen von Jim und Lukas dienen.

Hier ist dann auch das Moment zu finden, in dem besonders die Umsetzung der Augsburger Puppenkiste auftrumpfen kann. Nicht nur, dass die satirisch angelegten Figuren wie Herr Ärmel oder König Alfons weitaus nuancierter und auch sympathischer gezeichnet werden, auch die Nebenfiguren wie Tur Tur oder Lis Sie erhalten gefühlt mehr Dialog, mehr Charakter und mehr Wärme. Die Augsburger Puppenkiste kümmert sich wirklich um ihre Akteure und Akteurinnen und lässt diese ordentlich menscheln / menschlich erscheinen. Das ist umso beeindruckender, wenn man bedenkt, wie wenig das Puppenspiel dafür mimisch und gestisch in der Hand hat. Trotz der im wahrsten Sinne des Wortes hölzernen Bewegungen und dauerlächelnden, leblosen Puppengesichter genügen ein paar einfache Gesten und pointierte Dialoge in Verbindung mit dem richtigen Kamerafokus, um den meisten Charaktere Lebens- und Liebenswürdigkeit zu geben.

Hier sieht es beim 2018er Film ein wenig anders aus, und das obwohl er perfekt gecastet ist… und wie. Wer auch immer für das Casting verantwortlich war, hat einen Traumjob geleistet: Uwe Ochsenknecht als schusseliger König, Christoph Maria Herbst als untertäniger Ärmel, Anette Frier als liebevolle Frau Waas, Henning Baum als ruppiger aber herzlicher Lukas, Milan Peschel als einsamer und hilfsbereiter Tur Tur… man kann gar nicht genug jauchzen, angesichts dieser Besetzungswahl. Auch Solomon Gordon als Jim Knopf leistet in seinem Debüt solide Arbeit, auch wenn er vom um ihn herumwuselnden Spitzencast ein wenig an die Wand gespielt wird. Und trotz dieses tollen Casts und der fantastischen Schauspielleistungen bleiben die Charaktere in der Neuverfilmung blass, erschreckend formelhaft. Das liegt an der größten Schwäche des Films, dem Pacing.

5.) Das Pacing

Um das Pferd von hinten aufzuzäumen, das Pacing wurde in dem großen Fantasy-Blockbuster ganz schön vergeigt. Man sieht Drehbuch, Regie und Schnitt geradezu den Wunsch an, so viel wie möglich von der fantastischen Vorlage auf die Leinwand zu retten. Und genau das ist das Problem. Der Film will zu viel bewahren, zu viel kinofizieren und verstolpert sich dadurch komplett in seinem Rhythmus. Mitunter wirkt das ganze Geschehen wie ein Schnellritt durch Motive, Settings und Geschehnisse der Vorlage. Und das muss noch untergebracht werden, und das noch, und das noch… Dadurch ist der 2018er Film zu schnell, viel zu schnell, lässt sich überhaupt keine Zeit für seine grandiosen Setups. Der Konflikt in Mandala wird nicht einmal touchiert, der Scheinriese, eine der spannendsten Erscheinungen des Buches, wird innerhalb von Sekunden runtergespielt, die Drachenstadt geradezu durchrast. Der Film kommt einfach nicht zur Ruhe, schafft es nicht mal für einen Moment innezuhalten und zu genießen, was er da selbst auf die Leinwand zaubert. Das ist schade, weil er doch atmosphärisch wie zuvor geschrieben eigentlich alle Trümpfe in der Hand hat. Warum verdammt noch mal nutzt er sie dann nicht, sondern opfert sie stattdessen seiner hyperaktiven „Alles muss beackert werden“-Arbeitsmoral?

Da ist die Augsburger Puppenkiste doch weitaus sympathischer, gerade weil behäbiger. Wo die Vorlage voller Esprit und Kraft ist, geradezu einer Achterbahnfahrt mit vielen Höhen und Tiefen und perfekt getimten Ruhemomenten gleicht, lehnt sich die Augsburger Puppenkiste ganz entspannt zurück und spielt die ruhigen Momente der Vorlage genüsslich aus. Ja, das wirkt dann mitunter zu behäbig, zu bieder, beraubt die Vorlage ihres Schwungs und ihrer anarchischen Launischkeit. Aber es lässt den Zuschauer eben auch wirklich erleben, ein wenig rumspinnen, ein wenig eigene Bilder entwerfen, während 2018 von Setting zu Setting hopst und kaum Verschnaufpausen zulässt. Das Pacing, die größte Stärke des Romans, die mutigste Zurücknahme gar Unterminierung der Augsburger Puppenkiste wird im 2018er Film dem Wunsch nach Mehr, nach Allem geopfert und macht ihn zu einem anstrengenden, gehetzten Werk, das ein wenig an seinen eigenen Ambitionen scheitert.

6.) Fazit

Das klang jetzt vielleicht doch ein bisschen harsch. Und um das gleich abzufedern: Trotz seiner rhythmischen Defizite ist der Film von 2018 alles in allem sehr gelungen. Immerhin haben es hier alle Beteiligten geschafft, die Bilder von Michael Endes Roman grandios auf die Leinwand zu bringen, weiter zu denken und ihnen Leben einzuhauchen. Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer als Kinofilm ist eine fantastische Konklusion der Vorlage und streitbar die beste Michael Ende Verfilmung, die es je gab (Auf jeden Fall weitaus stärker als die partiell komplett misslungene 80er Jahre Verfilmung der Unendlichen Geschichte. Aber das ist eine andere Rezension und die soll ein anderes Mal erzählt werden). Aber auch die Augsburger Puppenkiste als sympathische, biedere Kinderinterpretation des Stoffes kann nach wie vor – vor allem den Jüngeren – eine Menge Spaß machen, auch wenn sie ein wenig veraltet ist. Der Roman indes ist, obwohl ein Kind seiner Zeit, einfach mal ein zeitloses Meisterwerk, das hoffentlich auch in Zukunft noch von vielen Generationen neu entdeckt werden wird. Durchaus denkbar, dass dem 2018er Film ein ähnliches Schicksal blüht wie der 70er Jahre Verfilmung, und er in 30 Jahren auch nur noch wie ein Zeitdokument des frühen 21. Jahrhunderts wirkt, den Roman jedoch dürfte dies nicht so schnell ereilen. Daher sei als Gesamtfazit an das 2019er Publikum gerichtet: Genießt alle drei Werke, und am besten chronologisch wie sie entstanden sind. Lest den Roman (ehrlich! Tut es!), amüsiert euch danach ein wenig mit der Augsburger Puppenkiste und genießt zu guter letzt die Neuverfilmung. MUSS man lesen, kann man sehen, darf man sehen.

Buch: Michael Ende – Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer (Affiliatelink)

Augsburger Puppenkiste: Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer (Affiliatelink)

Kinofilm: Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer (Affiliatelink)

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