Der Arschlochzuschauer: Eine Typologie der Kinotyrannen

Aus aktuellem Anlass: Ich war gestern abend im Kino, und was mir dabei mal wieder tierisch auf die Nerven gegangen ist, war das Flüstern, Quatschen und Handytelefonieren im Hintergrund. Ich würde mich diesbezüglich nicht als Sensibelchen bezeichnen, ein wenig Hintergrundatmosphäre ist okay, gehört vollkommen zum Kinovergnügen dazu. Es gibt aber diese bestimmte Spezies Zuschauer, die einem jeden noch so tollen Kinoabend verleiden können. Ich habe dieser Spezies – auf den Namen Arschlochzuschauer getauft – schon vor einigen Jahren eine kleine Rede gewidmet. Konzipiert war dieses Pamphlet für Lesebühnen- und Kabarettauftritte und ist dementsprechend vielleicht nicht so lesefreundlich. Da es mir aber mal wieder eine Herzensangelegenheit ist, auf die Missstände in den hiesigen Filmpalästen aufmerksam zu machen, gibts die ungekürzte leicht modifizierte Fassung dieser Anklageschrift nach dem Klick.

Es ist ein trauriger Anlass, der mich zum Formulieren dieser Rede inspiriert hat: Das Kino ist tot. Lange Zeit hat es versucht, sich noch am Leben zu halten, hat diversen Preiserhöhungen getrotzt, hat selbst das Zeitalter der Videokassette und der DVD überstanden, und auch das Internet mit seinen Download- und Streaming-Möglichkeiten konnte ihm nichts anhaben. Nein, es wird Zeit eine klare Aussage darüber zu treffen, wer den Untergang der Filmpaläste zu verantworten hat, und ich denke, dass bei aller Trauer heute der richtige Tag ist, um mit dem Finger auf die zu zeigen, die das Kino zerstört haben: Es sind die Arschlochzuschauer. Ich möchte diesen traurigen Moment nutzen, um einen kleinen Blick auf diese parasitäre Spezies zu werfen, die sich in diversen Multiplexen und Arthousekinos ausbreitet, um somit dem Kino posthum zumindest eine kleine Genugtuung zu verschaffen.

Die Spezies des Archlochzuschauer gliedert sich in mehrere Klassen:

Erstens: Der Zuspätkommer: Wenn er kommt, läuft der Film bereits eine halbe Stunde, 90 Minuten, oder ist gerade in seiner spannendsten Phase. Der Zuspätkommer ist meistens 2 Meter groß, nachtblind und taub, steht also hilflos blinzelnd genau so vor der Leinwand, dass man wichtige Details des Films oder die lang erwartete Nacktszene nicht sehen kann, während er lautstark nach seiner Freundin ruft: „Heeeelga!“ „Roooooooooolf!“ „Wooooooooo bist du?“ „Hier!“ „Woooo?“ „Na hier!“

Zweitens: Der Popcornraschler, Colaschürfler und Süßigkeitenmampfer: das Haupterkennungszeichen dieser Spezies sind die Unmengen an Essen, für die der Zuschauer mehr Geld ausgibt, als für die Karte, die er an der Kasse gekauft hat. Als da wären: Mindestens ein Liter Cola (meistens eine ungekühlte von zu hause mitgebrachte Pet-Flasche), einer riesigen Portion Popcorn (die er sich mit drei, vier Artverwandten teilt) und fürchterlich stinkenden Nachos mit Käsesauce. Sobald der erste wichtige Dialog im Film zu hören ist (und keine Minute früher) beginnt er in seiner Popcorntüte zu rascheln, als suche er darin einen verborgenen Inkaschatz, schlürft selbst dann an seiner Cola weiter, wenn der Becher schon seit Minuten leer ist, und schleudert seine Nachos in einem Lachanfall geschickt so über die Sitzreihen vor ihm, dass auch wirklich jeder Zuschauer im Saal weiß wie sie aussehen, riechen und sich anfühlen.

Drittens: Der Nichtversteher und der Filmexperte: Sie treten immer zu zweit auf, sitzen nebeneinander und scheinen die besten Freunde zu sein. Das primäre Verhalten des Nichtverstehers besteht darin schon nach wenigen Minuten Film nichts mehr zu verstehen… und daher zu jeder Gelegenheit seinem Sitznachbarn, dem Filmexperten diverse Fragen zu stellen. Dabei reicht die Bandbreite von „Mit wem ist die jetzt noch mal zusammen?“ über „Wer war jetzt der Mörder“ und „Glaubst du, dass das ein echter Stunt war?“ bis hin zu einem simplen „Häh?“ bzw. „Was?“.

Der Filmexperte wiederum nutzt seine Antwort nicht nur, um das gesamte Filmgeschehen zu eruieren, sondern hält dabei meistens noch einen Vortrag über die Geschichte des jeweiligen Films, Genres, oder des Kinos an und für sich. Aus Filmexperten werden sehr schnell Nichtversteher, wenn sie nämlich während ihres Manifestes irgendeine wichtige Szene verpasst haben , und kurz darauf auch „Was?“ „Häh?“ oder „Bitte?“ fragen müssen. Sowohl Nicht-Versteher als auch Filmexperten laufen ständig Gefahr zur besonders abstoßenden Spezies des Filmkritikers zu werden.

Viertens: Der Couchpotatoe: Ihm macht der Film nur dann Spaß, wenn er sich wie im heimischen Wohnzimmer fühlt und auch sämtliche Verhaltensmuster an den Tag legen kann, denen er in seiner vertrauten Umgebung folgt. Als da wären: Handytelefonate, lautes Rülpsen, Schuhe ausziehen, sich quer über eine Sitzreihe legen, zehnmal während des Films den Sitzplatz wechseln, zum Kühlschrank gehen und sich ein Bier holen oder während der Vorführung zu versuchen, laut fluchend den Sender zu wechseln. Oft stellen die Couchpotatoes nach ungefähr einer Stunde fest, dass sie im falschen Film sitzen, wodurch sie im nächsten Saal automatisch zu Zuspätkommern werden.

Fünftens: Der Filmhasser: Nein, er hasst nicht nur diesen Film, er wusste das bereits bevor er die Karte gekauft hat, ja bevor er überhaupt wusste, dass es diesen Film gibt. Im Grunde genommen hasst er das Konzept Film an und für sich und, er muss jedem und zwar wirklich JEDEM im Kino deutlich zeigen, dass er ein riesiger Feind des Kinos ist. Das fängt an bei verächtlichem Lachen bereits während des Vorspannes, geht weiter mit lautem Prusten während einer spannenden Szene und endet bei einem immer wieder laut aufgerufenen „Gott ist das Scheiße!“ während der Vorstellung. Filmhasser sitzen grundsätzlich in der Nähe von Psst-Rufern und Diskutierern.

Sechstens: Die Psst-Rufer und Diskutierer: Sie glauben sie wären die Guten… Sie glauben, sie würden das Kino lieben, sie glauben, nicht zu den Störenfrieden zu gehören, sie glauben kein Arschlochzuschauer zu sein… Und sie glauben sie müssten jeden Missionieren, der nicht zu den vermeintlich Guten gehört, die sie sind. Aber sie sind mit die schlimmsten Kinobesucher überhaupt. Sie setzen sich grundsätzlich in die Nähe eines Störenfriedes, Popcornraschlers oder Filmhassers und beginnen schon nach der kleinsten Ruhestörung mit ihrem Ritual, dass immer wieder den folgenden Ablauf aufweist: – Augenrollen – Gegen den Sitz des Störenfrieds treten – „Psst!“ rufen – und dann früher oder später immer, eine Diskussion mit dem vermeintlichen Störenfried beginnen. Diese Diskussionen sehen immer gleich aus: Sie sind lauter, hektischer und nerviger als jedes sie auslösende Popcornrascheln, Colaschlürfen, Rülpsen oder Lachen. Die Psst-Rufer und Diskutierer suchen sich für ihre Aktionen nicht immer Störenfriede aus, sondern auch gerne ganz normales Publikum, um dieses darauf hinzuweisen, dass auch in einer Komödie auf keinen Fall laut gelacht werden darf und dass ein Schluck aus einer Colaflasche bereits während der Werbung vor dem Hauptfilm ein Kapitalverbrechen darstellt. Psst-Rufer sind zudem sich während einer Vorstellung am schnellsten vermehrende Spezies. Ein prototypischer Dialog:

Popcornrascheln

Psst!“

„Heh, Ruhe, sagen sie nicht so laut Psst!“

„Schnauze da vorne!“

„Sagen sie das dem Psst-Rufer!“

„Ich habe nur Psst gerufen, weil der da so laut mit seinem Popcorn raschelt!“

„Halt endlich die Schnauze!“

„Könnt ihr nicht alle drei die Schnauze halten?“

„Shht… hier gibt es Leute die den Film sehen wollen.“

„Will ich doch auch!“

„Dann halt endlich dein verdammtes Maul!“

„Halt du es doch“

„Häh! Was hat der gerade auf der Leinwand gesagt!“

„Ist doch egal, Bruce Willis ist eh tot!“

„Haltet eure verfluchte Klappe!“

„Shhhht!“

„Oh mein Gott, was für ein Scheißfilm!“

„Schnauze!!!“

„Helgaaa!“

„Rolf!“

Und das ist nur die Spitze des Eisbergs. Hinzu kommt eine ganze Reihe verhaltensauffälliger Standard-Zuschauer, die mal dieses mal jenes Arschlochzuschauer-Verhalten aufweisen. Ebenfalls ein Graus sind die Mutationen des Filmhassers, Filmexperten und Filmnichtverstehers… der berühmt berüchtigte Filmkritiker, dem es Dank übertriebener Spoiler, alberner Kritikpunkte und wahllos selektiven Liebes- und Hassbekundungen gelingt, das Filmvergnügen bereits vor dem Kinobesuch zu sabotieren. Ebenfalls unglaublich stressig, die zahllosen Arschlochzuschauer-Gruppierungen: Teenager-Gangs, verliebte Pärchen (die während der besten Szenen so dicht aneinander rücken, dass der Blick auf die Leinwand zu 90% erfolgreich blockiert wird), Menschen mit großen Hüten, ausufernden Haaren, Menschen die während der Vorstellung ständig den Sitzplatz wechseln, Menschen die frisch vom Joggen (und gleichzeitigen Döner-Essen) in den Kinosaal kommen und, und, und…

Bei diesen Aussichten ist es kein Wunder, dass immer mehr Cineasten den Lichtspielhäusern fernbleiben und dem Arschlochzuschauer das Feld überlassen. Denn wenn man sich zu Hause entspannt Netflix oder ähnliches gibt, geht einem meist nur ein Arschlochzuschauer auf die Nerven: Man selbst.

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