Harry Potter, Hitler und Appeasement: Der Zauberlehrling und das britische Trauma

Nicht mehr lange… Bald ist es so weit. Wenn Mitte Juli mit Harry Potter and the Deathly Hollows 2 der endgültig letzte Film über Hogwarts, Harry Potter und Lord Voldemort in den Kinos anläuft, wird damit eine Fantasyserie beendet, die Leser und Kinogänger in den letzten zehn Jahren permanent in Atem hielt. Die Erlebnisse des Schülers, Zauberlehrlings und Auserwählten sind bereits jetzt schon so etwas wie Literaturgeschichte, haben eine riesige Fankultur um sich versammelt, Autorin J.K. Rowling reich gemacht und zahllose Untersuchungen des Phänomens provoziert. Die Mythologie, die Religion, die klassischen Fantasy-Bezüge… Dabei lässt sich Harry Potter problemlos (und mit viel Spaß) ganz konkret beinahe zeitgenössisch lesen: Nämlich als Verarbeitung eines großen britischen Traumas der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts: Vom europäischen Schicksalsjahr 1914 über die Deutschlandpolitik der 30er Jahre, den Zweiten Weltkrieg bis hin zu 1945 und dem Schlussstrich unter die Verwirrungen der europäischen „Moderne“. Harry Potter und Lord Voldemort, Großbritannien und Adolf Hitler, Appeasement und Krieg… Parallelen und Analogien: Spoiler ahead!

Es fällt nicht sonderlich schwer, in Tom Riddle bzw. Lord Voldemort eine literarische Verarbeitung Adolf Hitlers zu sehen: Zu offensichtlich sind die Analogien, zu klar die politischen und ideologischen Verknüpfungen. Lord Voldemort als der dunkle Hexenmeister, der nach großer Macht strebt, der mit den Todessern eine ideologisch gefestigte, mitunter verführte – aber größtenteils bis in den Tod treue – Anhängerschaft um sich schart, das Spiel mit den Symbolen: Was bei den Nationalsozialisten das Hakenkreuz war, ist in diesem Fall die Schlange, die majestätisch und beängstigend die Ankunft der Todesser ankündigt. Nicht nur symbolisch und strukturell, sondern auch inhaltlich, ideologisch gibt es genug Anknüpfungspunkte: Die ablehnende Haltung Muggeln gegenüber, die rassistische Unterteilung in Reinrassige und Schlammblütler, das Ziel die magische Welt eben von jenen zu reinigen… Es wäre durchaus berechtigt, die politischen Implikationen hinter der Juden/Muggel-Analogie kritisch zu hinterfragen, werden diese doch in diesem Bild zu vollkommen hilflosen, nichtsahnenden und von der Unterstützung der magischen Welt abhängige Opfer reduziert. Aber wir wollen das an diesem Punkt stehen lassen. Viel spannender als die allzu offensichtlichen Hitler-Bezüge Voldemorts sind nämlich die interpretatorischen Konsequenzen, die sich daraus ergeben.

Lord Voldemorts Erscheinen wird in Harry Potter als eine Art Wiederkehr zelebriert. Die Gefahr war bereits einmal vorhanden, Tom Riddle hat bereits viele Menschenleben auf dem Gewissen und so muss seine potentielle, erneute Machtergreifung mit Schrecken erwartet werden. Die Analogie zu der Remilitarisierung und erneuten Expansionspolitik der Deutschen in den 30er Jahren sind evident. Nachdem diese eine enorme Mitschuld am Ausbruch und an der Viralität des ersten Weltkriegs trugen, war spätestens mit der Wahl Hitlers zum Reichskanzler (wenn nicht schon früher in der Zeit der Präsidialkabinette) eine erneute Aufrüstung und eine Bewegung Europas hin zum nächsten großen Krieg abzusehen. Ebenfalls in dieser Zeit lässt sich der Konflikt zwischen Mahnern und Beschwichtigern verorten. Inwiefern die Appeasementpolitik damals auch von ökonomischen, innenpolitischen und mentalen Dispositionen abhing, ist hierbei erst einmal zweitrangig. Sie ist als Politik der Schwäche und nicht wahrgenommenen Gefahr in die Geschichte eingegangen. So wie das britische Königreich in der Rezeption als lax im Umgang mit der Bedrohung durch die Nazis gesehen wird (Akzeptanz der Remilitarisierung, der Rheinlandbesetzung, der Expansionspolitik bis hin zum Münchner Abkommen), so reagiert auch das Zaubereiministerium auf die mögliche Wiederkehr Voldemorts (die erst am Ende von Band 5 – Der Orden des Phönix – öffentlich, offiziell zur Kenntnis genommen wird). Die Mahner – Harry Potter und Dumbledore – werden als Spinner oder sogar Lügner abgetan.

In diesem Kampf zwischen Appeasement und einer Politik der harten Hand verarbeitet Harry Potter auch das Mächtegleichgewicht Europas, inklusive der klassischen, britischen Sorgfalt ein Balance of Power, eine Harmonie in Kontinentaleuropa zu erreichen. Das europäische Mächtekonzert spielt sich selbstverständlich in Hogwarts ab, zwischen den verschiedenen Häusern, ihren Idealen und Mentalitäten: Gryffindor nimmt hierbei die Rolle des britischen Königreiches, spätestens ab der großen Schlacht um Hogwarts die der britisch-amerikanischen Allianz ein. Slytherin als konkurrierendes Haus und als Geburtstätte vieler dunkler Magier steht für das deutsche Reich. Interessant ist hierbei die konsequente Trennung zwischen Deutschland und dem Hitlerismus bzw. Slytherin und den Voldemort-Anhängern. Trotz zahlloser Verknüpfungen und einer besonderen Anfälligkeit der Slytherins werden diese nie mit den dunklen Mächten gleichgesetzt. Über die Zuteilung der anderen Häuser könnte man streiten. Historisch narrativ betrachtet macht am ehesten eine Zuweisung des osteuropäischen Raums (Polen, Tschescheslowakei, Ungarn etc…) und Frankreichs Sinn. Aber eigentlich ist diese Zuordnung eher zweitrangig; zentraler ist das Verhalten der Häuser untereinander: Sie konkurrieren wie die verschiedenen Länder Europas, haben ihre Disziplinen, in denen sie jeweils besonders stark sind, und spätestens ab Band 6 – Harry Potter und der Halbblutprinz -, wenn die Rückkehr Voldemorts offiziell ist, folgt stets der Appell, sie müssten in diesen schwierigen Zeiten zusammenhalten.

Wie dies dann ganz konkret geschieht, auch in der Freundschaft von Harry, Hermine und Ron spiegelt den Wunsch der Briten nach einem Balance of Power, nach einem Mächtegleichgewicht wider: Jeder hat seine Interessen, seine Stärken und Schwächen, aber angesichts des übermächtigen dunklen Feindes raufen sich die unterschiedlichen Häuser/Personen/Nationen zusammen, um diese gemeinsam zu bekämpfen. Hier gibt es dann auch darüber hinaus sehr viel Potential zu spezifischen Zuordnungen. Der ganzen Orden des Phönix als mahnende Institution und die Kraft, die sich später als erstes in den Kampf gegen Voldemort stürzt, kann wunderbar als Vertreter für die Churchillianer aufgefasst werden… oder zumindest deren retrospektive Betrachtung auf der Insel. Winston Churchill selbst sieht man am ehesten im knochigen, harten aber durch und durch sympathischen Mad Eye Moody verkörpert. Dumbledore, der den stets aktiven, lange Zeit nicht Ernst genommenen und schließlich geopferten Mahner vor der Macht Voldemorts verkörpert, steht stellvertretend für die Wichtigkeit und gleichzeitige Ohnmacht des Völkerbunds. Es ist kein Zufall, dass sein Tod den Todessern den Weg nach Hogwarts ebnet, dass sein Ende zugleich der Beginn des ganz realen Kampfes Potters gegen den Erzfeind bedeutet. Mit seinem Tod kann Harry Potter sich vom Mentor lösen, auf eigene Faust gegen die dunkle Bedrohung kämpfen, ganz analog zur Rolle des Völkerbunds in den 30er Jahren, der zu gleichen Teilen notwendig als internationales Parkett und hilflos gegenüber den aufschwelenden Konflikten und Gefahren von Japan, Italien und Deutschland war.

Eine interessante Rolle nimmt hier noch die Figur Severus Snape ein: Er ist nicht nur für den Tod des Völkerbunds/Dumbledores verantwortlich sondern zugleich auch bis zum Ende des Kampfes eine zwiespältige Figur. Erst im letzten Band auf den letzten Seiten wird seine Rolle in der Geschichte als vertrauenswürdige Figur bestätigt. Davor erntet er permanent das Misstrauen Harry Potters, schwankt stetig zwischen der Treue zu Dumbledore und der Verwicklung in die Machenschaften der Todesser. Snape als eigentlich unsympathisch angelegte – dennoch faszinierende und als sympathisch rezipierte – Figur kann für die Rolle des Kommunismus, beziehungsweise konkreter für die Rolle der Sowjetunion, stehen. Harry ist im ersten Band – Der Stein der Weisen – so sehr auf das Misstrauen ihm gegenüber fixiert, dass er die tatsächliche Bedrohung nicht erkennen kann. Snape macht gemeinsame Sache mit den Todessern, wird nach deren Besetzung Hogwarts sogar zu dessen Direktor, nur um kurz darauf brutal von Voldemort getötet zu werden, weil dieser hofft so die gesamte Macht über den Elderstab in sich zu vereinen. Die Parallelen sind deutlich: Misstrauen gegenüber der SU, die erst Mitte der 30er Jahre in den Völkerbund aufgenommen wurde, schließlich der Vertrauensbruch durch den Hitler-Stalin-Pakt, die Erfüllung des geheimen Zusatzabkommens, als Russland und Deutschland Osteuropa unter sich aufteilten… und final, der Verrat Deutschlands an Russland durch die Operation Barbarossa und den unangekündigten Angriff.

Zum Abschluss noch schnell die Chronologie der Ereignisse, die in dieser Analogie eine nicht unwesentliche Rolle spielt:

  • Band 1, Der Stein der Weisen: Misstrauen gegenüber Snape, erst gegen Ende das Erkennen der wahren Gefahr, der Rückkehr Voldemorts. Parallel dazu die Entwicklung der Genfer Abrüstungskonferenz, das Misstrauen gegenüber der SU durch den Völkerbund, durch den Abbruch der Verhandlungen langsame Erkenntnis über die Gefahr, die vom nationalsozialistischen Deutschland ausgeht.
  • Band 2, Die Kammer des Schreckens. Rekurs auf Voldemorts Vorgeschichte, die Konfrontation mit seinem früheren Ich in Form Tom Riddles und dessen Tagebuch, die Vergangenheit Riddles greift in die Gegenwart. Parallel dazu, die eigenmächtige Revision des Versailler Vertrags durch die Deutschen Mitte der 30er Jahre, die Politik Hitlers, die vor allem „Kurskorrekturen“ zu früherer Revisionspolitik wahrnimmt.
  • Band 3, Der Gefangene von Askaban, das Auftauchen neuer Charaktere, die eine wesentliche Rolle in der Entwicklung der Ereignisse spielen werden, namentlich Sirius Black und Lupin. Parallel dazu, die neu entstehenden Konfliktherde, eine allmähliche Formierung der Kräfte in den 30er Jahren: Der Abessinienkonflikt, die Geburt der Achse Berlin-Rom, eine Revitalisierung der Achsen, ganz ähnlich zu 1914.
  • Band 4, Der Feuerkelch, das Trimagische Turnier, dass von den Todessern und Voldemort für ihre eigenen Pläne missbraucht wird. Parallel dazu, Olympia 1936 in Deutschland, von den Nationalsozialisten missbraucht, um eine große Propagandaschlacht zu liefern.
  • Band 5, Der Orden des Phönix, nicht wahrgenommene Mahnungen und Warnungen, schließlich das offensichtliche Wahrnehmen der Gefahr in
  • Band 6 Der Halbblutprinz – verbunden mit dem Tod Dumbledores, dem Scheitern des Völkerbundes – und der Ausbruch des Krieges, des Kampfes um Hogwarts/Europa im finalen Band Die Heiligtümer des Todes.

Es ist schon erstaunlich, wie viele Parallelen sich zu der historischen Entwicklung der 30er Jahre ziehen lassen und wie leicht es ist, in diesen nach weiteren Analogien zu suchen. Natürlich muss dies nicht bedeuten, dass J.K. Rowling mit aufgeschlagenem Geschichtsbuch an Harry Potter geschrieben hat, gut möglich, dass sie nicht einmal latent an die historische Dimension und Interpretationsmöglichkeit dachte. Aber diese ist da und lässt wunderbare Rückschlüsse auf das „britische“ Empfinden zu dieser Zeit schließen. Am Ende der Harry Potter Saga steht das Ende Voldemorts, das Ende des Nationalsozialismus und zugleich ein Fortbestehen Europas, inklusive Deutschlands. Harry verteidigt im Epilog Slytherin/Deutschland sogar vor seinem Sohn, der Angst hat, genau in dieses Haus gewählt zu werden. Wenn die Potter Serie eine Verarbeitung des britischen Traumas der 30er und 40er Jahre ist, dann mit einem ähnlich versöhnlichen Abschluss, wie ihn die Geschichte des modernen Europas ebenfalls gefunden hat: The scar had not pained Harry for nineteen years. All was well.

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