Kanonisierung – Live! –— Kultur, Subkultur, Gegenkultur und die Macht des Rezipienten

Da ist es schon wieder. Das böse K.-Wort. Angesichts eines – wie immer in erstaunlicher Regelmäßigkeit stattfindenden – Jahrzehntwechsels erklingt es hier und dort, in Feuilletons, Fachzeitschriften, Foren und Social Networks. Kanon hier, Kanon da, Kanon überall: Die besten Filme des Jahrzehnts, die besten Alben des Jahrzehnts, die besten Bücher des Jahrzehnts und neu hinzugekommen – der kulturellen Etablierung sei Dank – die besten Videospiele des Jahrzehnts. Seit mehreren Jahrtausenden vitaler Menschheitskultur gilt immer noch der Grundsatz: es gibt nicht nur den Kulturschöpfer, sondern auch den Kulturkategorisierer, Bewerter, Kritiker, summa summarum, den aktiven Kulturrezipienten. Gebt uns Wertungen, gebt uns Kritiken, die Emporhebung und Vernichtung von Werken und gebt uns selbstverständlich auch Listen!

Spätestens seit Derrida, De Man, Deleuze und deren postmodernen, dekonstruktivistischen, poststrukturalistischen Rattenschwanz wissen wir: Ein Werk ist keine festgesetzte Einheit, sondern ein dynamisches Gebilde. Mit seiner Veröffentlichung gibt es der Produzent zur Rezeption frei, vogelfrei könnte man in manchen Boll’schen Fällen gar behaupten. Man könnte sogar soweit gehen, der französischen Schule weiterfolgend, in jedem Werk einen kleinen Tod des Schöpfers zu sehen, natürlich sowohl in sexueller als auch wortwörtlicher Hinsicht. Derrida beschreibt Kunst als Ejakulat, als riesige Sauerei und verweist auf Artaud mit dem Hinweis, dass ein Autor mit jeder Schöpfung etwas von sich hergibt, was nie wieder zurückzugewinnen ist (beides nachzulesen in dem hervorragenden Sammelband „Die Schrift und die Differenz“). Wenn ein Werk erschaffen und dem Rezipienten frei zugänglich ist, hat dieser auch die Macht, damit anzustellen, was er will. Der Autor hat den Schöpfungsakt vollendet, hat seine Gedanken herausgewichst, hat einen Teil von sich reproduziert und zugleich diesen Teil unweigerlich verloren. Das Kunstwerk ist auch das Kind, das von nun an seinem eigenen Weg folgt und nur noch in geringem Maße von Vater oder Mutter beeinflusst ist. An deren Stelle tritt die Gesellschaft und dies ist in Fällen von Filmen, Büchern, Musik und allen anderen medialen Formen und Unformen das knallharte, widerspenstige Publikum.

Dieses kann klassische Werke komplett neu interpretieren, kann in einer romantisch, ruhigen Gesprächsszene zwischen Faust und Gretchen – vollkommen egal ob intendiert oder nicht – eine Metapher auf Entjungferung entdecken, kann Friedrich Nietzsche des Protofaschismus, Protosozialismus oder gleich Protonationalsozialismus überführen, kann in Caligari die Präinkarnation Hitlers sehen oder Micky Maus zur Identifikationsfigur eines verklemmt Schwulen ernennen. Der freien Interpretation, Überinterpretation, Unterinterpretation und somit auch der freien Bewertung, Unterbewertung, Überbewertung sind keine Grenzen gesetzt. In unserem postästhetischen Zeitalter, das objektive Normen und Kriterien zur Beurteilung der Kunst Geschichte werden lässt, ist die subjektive, voreingenommene Beurteilung eines Kunstwerkes zum verbrieften Rezipienten- und Menschenrecht geworden. Und dieses Recht ist nur folgerichtig, wenn man sich die vorangehenden Jahrtausende Rezeptionsgeschichte vor Augen hält: Götter wurden erschaffen und vernichtet, was Ende des 19. Jahrhunderts und Anfang des 20. Jahrhunderts als Publikumsmagnet galt, kennt heute keine Mensch mehr, beziehungsweise ist maximal zum Objekt sozialhistorischer Forschung geworden. Niemand würde es heutzutage noch als essentiell ansehen „Die Gartenlaube“ zu lesen (grauenhaft wilhelminisch, konservative Boulevardzeitschrift von 1853 – 1944), kaum ein Theaterregisseur würde es noch wagen die Stücke des 1819 ermordeten Autoren und Dramatikers August von Kotzebue zu inszenieren (Goethe brachte 87 Kotzebue-Stücke auf die Bühne). Stattdessen sind unsere heutigen literarischen Helden von einst, damalige kulturelle Außenseiter. Hermann Melville, Autor des bedeutenden Buches „Moby Dick“ starb arm und unbekannt, so unbekannt, dass er in seiner Todesanzeige zu „Henry Melville“ degradiert wurde. Franz Kafka erlangte ebenfalls nur posthum Ruhm. Und der heute als Ikone des amerikanischen Suspense-Kinos gefeierte Alfred Hitchcock war lange Zeit bei den Kritikern als simpler Unterhaltungsregisseur verlacht. Der Klassiker „Vertigo“, der mithin als einer seiner besten Thriller gilt, erhielt zu seiner Erstaufführung gar vernichtende Kritiken.

Unser Kanon ist ein anderer als der vor hundert Jahren, und der Kanon im Jahre 2100 wird wiederum ein ganz anderer sein. Und an diesem Kanon und an folgenden Kanons mitzuarbeiten ist sowohl Recht als auch Pflicht des interessierten Publikums. Manch einer mag diese Aufgabe noch nicht begriffen haben: Wer unreflektiert „Citizen Kane“ als den besten Film aller Zeiten bezeichnet, weil so viele Kritiker vor ihm ja nicht irren können, wer die Beatles als beste Band aller Zeiten ansieht, weil sie damals sowohl Publikumsmagneten als auch Feuilletonlieblinge waren, der unterschätzt nicht nur seine eigene Macht in Bezug auf den Kanon, sondern untergräbt auch seine eigene Meinung. Wer die tausend Bücher, die man gelesen haben muss, bevor man stirbt, abarbeitet (der durchschnittliche Mensch schafft übrigens gerade mal 3000-5000 Bücher in seinem Leben, vorausgesetzt er schafft zwei pro Woche) oder sich alle tausend Filme des entsprechenden cineastischen Kanons reinzieht, macht bestimmt nichts falsch – erlangt eines hohes Maß an kultureller Bildung – sobald er aber beginnt, starr an diesem Kanon festzuhalten, macht er gleichsam nichts richtig. So sehr wir von dem kulturellen, kanonischen Erbe früherer, aufgeklärter Rezipienten profitieren können, so sehr müssen wir auch die Aufgabe verfolgen, folgenden Generationen weitere Kanons, unsere Kanons zu vererben. Und das bedeutet: Vergessene Perlen suchen und hervorgraben, auf unterschätzte Meisterwerke aufmerksam machen, ebenso aber eventuell überschätzte Werke kritisch zu hinterfragen.

Die Macht des Rezipienten besteht nun mal auch darin, einen Ingmar Bergman zum Kotzen zu finden, Godard eine fragwürdige, vielleicht misogyne Moral zu unterstellen oder die Musik Bob Dylans als überschätztes Songwritergedudel abzutun. Im gleichen Atemzug kann er auf das unterschätzte Genie eines Uwe Bolls, Ed Woods oder einer Lady Gaga aufmerksam machen, einen vergessenen bulgarischen Arthouse-Film aus dem Jahre 1963 hervorkramen, oder die 1970er Krautrockband aus seinem Heimatdorf als neue Referenz am Psychedelicrockhimmel präsentieren. In einer Zeit des ästhetischen Subjektivismus und Relativismus ist es dabei umso entscheidender als selbstbewusster Konsument und Rezipient aufzutreten: Sprich, nicht mit fremden Kritikermeinungen, Konsumentenkonsens oder kanonischen Listen argumentieren, sondern das Urteil an „persönliche“ Kriterien zu binden die eine gewisse Objektivierung des eigentlich subjektiven Geschmacks ermöglichen.       – Bevor ich an dieser Stelle zu weit vom Thema abdrifte, der Hinweis, dass ich mich der „Objektivität“ des ästhetischen Urteils vielleicht in einer kommenden Glosse stellen werde. Nur so viel sei gesagt: Selbstverständlich setzt eine ästhetische Beurteilung eine „kulturelle Bildung“, eine Kenntnis von vergleichbaren Werken, vermeintlichen Referenzen etc. voraus, ebenso eine Kenntnis von wertungsrelevanten Kriterien, die dann allerdings trotzdem bei zwei verschiedenen „aufgeklärten“ Rezipienten zu völlig unterschiedlichen Wertungen führen kann. –

Ein Aspekt der Kanonbildungsmacht soll nicht unterschlagen werden, nämlich der der Web2.0-Generation. Im Falle von James Camerons Avatars findet man ein treffendes Beispiel für den Kampf um die Kanonbildung und Kategorisierung eines Kunstwerkes in der Netzgemeinschaft. In unzähligen Foren, auf diversen Blogs und Diskussionsseiten streiten Fans und Kritiker, ob es sich bei dem 3D-Spektakel nun um einen guten Film, ein Meisterwerk oder ein Machwerk handelt. In der Netzkultur äußert sich das massive Selbstbewusstsein des Publikums und auch das Streben danach, die eigene Meinung in den derzeitigen und natürlich auch zukünftigen Kanon einfließen zu lassen. Es hagelt Lobpreisungen und Verrisse, Sezierungen und Analysen und jeder will seinen Teil dazu beitragen, dass der Blockbuster nun für immer in die Filmgeschichte eingeht oder so schnell wie möglich als mutmaßlicher Blender entlarvt wird. Nirgendwo sonst wird die kulturelle Diskussionskultur als demokratisches Instrumentarium zur Einordnung von Kunstwerken so deutlich wie in der Internetgeneration. Interessant sind dabei nicht nur die Leidenschaft von Kritikern und Liebhabern sondern auch die Argumente, die zur Untermauerung der eigenen Meinung angebracht werden. In einigen Diskussionskreisen hat es sich leider eingebürgert, mit Einspielergebnissen, Kritiken (ob positiv oder negativ) Golden Globes und Oscarnominierungen für oder gegen den Film zu argumentieren. Aber gerade diese Argumentationsweise untergräbt die eigene Meinung, das Selbstvertrauen in diese und das Selbstvertrauen in die eigenen Rezeptionsfähigkeiten. Spannender sind dann doch die Argumente – sowohl von Schätzern als auch Hassern des Films – die auf ausgesuchte ästhetische Kriterien, deren Relevanz etc. eingehen.

Festzuhalten bleibt: Das Publikum ist mächtig. In einer aberwitzigen Mischung aus professioneller Kritikeroligarchie, allgemeiner Konsumentendemokratie und durch die Möglichkeit der Webkultur neu hinzugekommenen Bloggeraristokratie erstellt und beeinflusst es den Kanon, verwirft, wiederentdeckt und konserviert es. Dieser kulturell-evolutionäre Prozess verdient es, erhalten, gepflegt und erweitert zu werden. Er erfordert ein selbstständiges, selbstbewusstes aber auch aufgeklärtes und zur Weiterbildung bereites Publikum. Ja, ich will mich streiten. Ich will Meinungen hören, die meiner komplett widersprechen. Ich will, dass meine kulturellen Götter in Frage gestellt werden. Ich will auf mir unbekannte Perlen aufmerksam gemacht werden und ich will das selbe Tun: Will Leute mit meinem Geschmack nerven, tyrannisieren, vielleicht den ein oder anderen missionieren und ich will, dass mir das selbe widerfährt. Wir alle sind schließlich Teil dieses Prozesses, Partizipanten, Rezipienten, Motor und Nutzer. Es gibt keinen statischen Kanon, sondern ein dynamisches Abstraktum, einen ständigen Prozess, etwas was hier und jetzt stattfindet, sich hier und jetzt verändert, mutiert, entwickelt und bewegt: Kanonisierung – live, überall in ihrer Nähe!

Erstveröffentlichung des Textes: 2010