Bergman, Cronenberg und Lynch in Berlin – Der surreale Horror-Kultfilm Possession

Ein polnischer Regisseur dreht mit internationalen Darstellern einen englischsprachigen Film im geteilten Berlin der frühen 80er Jahre. Was in der Beschreibung bereits ambitioniert klingt, ist im Endergebnis eine höchst absurde Tour de Force, ein wahnwitziger Horrorschocker über jegliche Klassen- und Genrezuschreibungen hinaus. Andrzej Zulawski pfeift auf gängige Konventionen und liefert mit Possession eine wüste Mischung aus Ehedrama, Kammerspiel, Psychogramm, Bodyhorror und metaphysischem Surrealen Mysterythriller, die dem Zuschauer ein ums andere Mal den Boden unter den Füßen wegzieht. Dem Verleih Bildstörung ist es zu verdanken, dass der rare Kultfilm seit 2009 auch in Deutschland ungekürzt auf DVD erhältlich ist.

Mark (Sam Neill mit der Schauspielleistung seines Lebens) erfüllt diffuse Beschattungsaufträge für seine obskuren Arbeitsgeber. Nach einer längeren „Geschäftsreise“ kehrt er nach Berlin zurück, nur um festzustellen, dass seine Frau Anna (unglaublich intensiv: Isabelle Adjani) nicht mehr mit ihm und ihrem gemeinsamen fünfjährigen Sohn zusammenleben will. Scheinbar hat sie schon seit längerem eine Affäre mit dem esoterischen, mysteriösen selbsternannten Sexgott Heinrich (grandios irre überzeichnet: Heinz Bennent). Rasend vor Eifersucht kontaktiert Mark seinen vermeintlichen Nebenbuhler, nur um festzustellen, dass Anna auch diesen verlassen hat. Mark setzt einen Detektiv auf seine Ex-Frau an, die er nach wie vor abgöttisch liebt. Dieser findet heraus, dass sich Anna in ein kleines, dunkles Apartment zurückzegogen hat, in dem sie offensichtlich nach dem Sinn des Lebens, Gott oder irgendetwas anderes sucht. Schnell wird klar: Sie hat bei ihrer Suche etwas gefunden. Aber das ist weder menschlich noch göttlich, sondern scheint direkt aus der Hölle entsprungen zu sein.

An dieser Stelle weiterzuerzählen käme einem Sakrileg an Zulawskis abgefahrener Vision gleich. Glauben würde es der interessierte Leser ohnehin nicht. Denn was Zulawski im folgenden an wahnwitzigen und irren Ideen auffährt, spottet jeder gängigen Beschreibung. Possession beginnt als eindringliches Kammerspiel, als die psychologische Sezierung einer Ehe. In den perfekt durchchoreographierten Dialogszenen und verbalen Schlachten zwischen Mark und Anna scheint mehr als einmal die Bergmannsche Inspiration eines „Szenen einer Ehe“ oder „Persona“ hervorzublitzen. Einzig die hysterische, niemals still stehende Kamera und die surrealen Einsprengsel – wie das diffuse Gespräch zwischen Mark und seinen geheimnisvollen Arbeitsgebern – trügen diesen Eindruck. Doch gerade, wenn man sich mit dem Gedanken arrangiert hat, eine ungewöhnliche Arthouse Produktion zu sehen, lässt Zulawski dieses Kartenhaus in sich zusammenfallen. Scheint im ersten Teil die Symbolik des Titels noch allzu deutlich bezogen auf die Inbesitznahme des Individuums in einem leidenschaftlichen Ehegefängnis, so lotet der Film im Folgenden die Motive der Leidenschaft, des Besitzanspruches und insbesondere des Sich-Verlierens auf vollkommen ungewohnte Weise aus.

Die erste Referenz, die dem Zuschauer bei dem seltsamen Ungetüm, dem Anna sich hingibt, in den Sinn kommt, ist die David Cronenbergs. Ähnlich wie in den Frühwerken des kanadischen Regievirtuosen arbeitet auch Zulawski mit der Verkörperlichung seelischer Zustände. Das Ergebnis ist Body-Horror par Excellence. Menschliche Körper werden aufgeschnitten, zermartert und geschunden, monströs inkubische Organismen paaren sich mit menschlichen Körpern gebären Dämonen und zerreißen Seelen. Das Körperliche ist an diesem Punkte auch immer ein Spiegel des Mentalen: So grausam die Bilder auch sind, so sehr der Film in Eingeweiden badet, sich an Schleimigem, Abstoßenden und Vulgären weidet, so bleibt das Metaphorische hinter den blutrünstigen Szenen doch immer sichtbar. Die Gewalt und die Gore-Effekte folgen nie einem Selbstzweck sondern verschleiern, enttarnen und offenbaren menschliche Abgründe, nur um kurz darauf in ihnen zu versinken.

Und diese Abgründe sind zahlreich in Possession: Sex und Gewalt, rasende Eifersucht, selbstzerstörerische Verlustängste, Klammern, Abstoßen… Die Grenzen extremer zwischenmenschlicher Beziehungen werden immer aufs Neue ausgelotet und überschritten. In Possession ist die Liebe Raserei, die Leidenschaft verbunden mit einem gefährlichen Selbstverlust, das Zwischenmenschliche auch immer zugleich das Unmenschliche, Barbarische und zugleich Tödliche. In diesem surrealen Albtraum wird eine weitere Referenz sichtbar, die David Lynchs. Allerdings – und dies sollte nicht vergessen werden – lange bevor der Maestro des surrealistischen Kinos diese Thematiken für sich entdeckte. In Possession finden sich erstaunlich viele Parallelen zu Lynchs 90er Jahre Albtraumlandschaften auf dem Lost Highway oder Mulholland Drive. Es wäre kaum verwunderlich, wenn Zulawskis Meisterwerk Lynch als Inspirationsquelle gedient hätte. Auch hier werden Menschen gespiegelt, werden zu Wiedergängern, Doppelgängern und Projektionen. Sowohl Adjani als auch Neill spielen Doppelrollen:  Sie als leidenschaftliche begehrte Ehefrau und deren scheinbarer potentieller Ersatz, er als betrogener und leidender Ehemann und jugendlicher Klon, vom Inkubus gebährter Christ oder auch Antichrist.  Da ist es nur allzu verständlich, dass Possesion mit seinem surrealen Bilderrausch im letzten Filmdrittel vollkommen ins Absonderliche, Unverständliche und Assoziative abgleitet.

Spoiler: Zum lesen markieren:

Anna behauptet steif und fest, das was sich in ihrem neuen Appartment befände, wäre Gott höchstpersönlich. Sie hat Angst ihn zu verlieren, will ihn nicht mit anderen Menschen teilen und ist sogar bereit dafür zu töten. Mark, immer noch blind vor Liebe für seine Frau, ist bereit ihre Morde zu vertuschen und wird gar selbst kriminell um sie in ihrem Wahn vor der Außenwelt zu schützen, verbunden mit der Hoffnung sie auf irgendeine Weise halten zu können. Hier prallen religiöse und libidöse Leidenschaft aufeinander. Ist Possession zu Beginn noch ein Psychogramm des Zwischenmenschlichen, wird es nun zur Metapher auf religiösen und metaphysischen Wahn. Der Sexgott Heinrich wird dem tatsächlichen Gott geopfert, verliert seine Seele und wird später auf äußerst grausame Weise in Exkrementen ertränkt. Ob das abscheuliche Monster in Annas Wohnung nun Gott oder Satan ist, ist dabei nur von sekundärer Bedeutung. Der transzendentale Wahn macht keinen Unterschied zwischen Erlösung und Endlösung, die Grenzen des universell Guten und universell Bösen verschwimmen, was einzig und allein zählt ist das Suchen und finden eines höheren Sinnes hinter der Realität. In der Hoffnung, diesen Sinn gefunden zu haben, paart Anna sich schließlich mit dem Inkubus und gebärt offensichtlich einen neuen Messias, einen Christus oder Antichristus, einen Sohn Gottes oder Satans, der ironischerweise ebenfalls von Sam Neill verkörpert wird. Mark, der zuvor noch alles getan hat, um seine Frau zu schützen, ihr gar den Beischlaf mit dem Monstrum verziehen hat, wird nun mit seinem Ebenbild konfrontiert. So wie er seine ganze Leidenschaft für Anna in das Kindermädchen Helen (ebenfalls gespielt von Adjani) projezierte, so projeziert sie ihre Hoffnung auf Erlösung ebenfalls in ihn. Religion, Libido und Romantik werden zu einem universellen Trieb. Der Geborene, ihre eigene Schöpfung trägt das Antlitz ihres Mannes, offensichtlich jedoch nicht dessen Seele. Kalt und glatt wirkt der gezeugte, diabolisch und beängstigend. Mark selbst erträgt seinen Doppelgänger nicht, will diesen töten, was durch seine eigene und Annas Hinrichtung durch die Polizei verhindert wird. Beide liegen sich sterbend in den Armen, küssen sich ein letztes Mal leidenschaftlich, bevor Anna die Pistole gegen sich und ihn zugleich richtet, der Selbstmord, das gemeinsame Sterben als finaler Orgasmus, als letzte leidenschaftliche Vereinigung. Aber mit diesem Bild ist der Höllentrip noch nicht zu Ende. Marks Doppelgänger flieht vom Tatort des Geschehens zu Marks Wohnung, wo Helen, Annas Doppelgängerin wartet. „Nicht öffnen, nicht öffnen!“ schreit Bob, Mark und Annas Sohn, als es an der Tür klingelt. Er rennt ins Badezimmer und ertränkt sich dort, in der Hoffnung das kommende Inferno nicht mitanblicken zu müssen. Helen und der Geborene betrachten sich durch die Tür. Die Doppelgänger, die Wiedergänger, vielleicht auch die Alter-Egos oder die geheimsten Sehnsüchte direkt aus dem Hades sind vereint. Während sie ihn mit einem leidenschaftlichen Blick streift, scheint hinter dem Haus die Welt unterzugehen.

Diese finale Entwicklung, diese groteske, kafkaeske Endzeitvision enthebt den Film jedem eindeutigen Erklärungsmuster. Liebe, Leidenschaft, Religion, Traum und Albtraum vermischen sich ineinander. Ein ganzes Bündel an Bedeutungsebenen wird aufgeworfen, ohne final erklärt zu werden. Zulawski hat mit Possession ein düsteres Gemälde gezeichnet, einen pessimistischen Albtraum, ein assoziatives System von Verweisen und zugleich einen endgültigen, absoluten Horrortrip. Possession ist Prophezeiung und Anklage, Transzendentalität und obszöne Körperlichkeit, Sex und physische Komplettauflösung, Inhumanität und menschliche Sezierung, Philosophie, Psychologie, Religion und absurd groteskes Schlachtfest. Ein brutales, verstörendes Meisterwerk, das es wert ist, entdeckt, erlebt und durchlitten zu werden. Inbesitznahme ausgeschlossen!

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Erstveröffentlichung des Textes: 2010