Die besten Filme 2016: Nocturnal Animals

Okay, gleich mal eine Art Offenlegung: Ich musste Tom Ford googlen. Bei Nocturnal Animals (2016) handelt es sich zwar um den erst zweiten Film des Regisseurs nach A single man (2009), außerhalb des Kinouniversums ist er allerdings alles andere als unbekannt. Tom Ford ist Modedesigner, und allem Anschein nach ein verdammt erfolgreicher Modedesigner: Chefdesigner bei Gucci, Privatperson mit dem größten Gucci-Aktienanteil, Prêt-à-porter-Designer bei SYL und schließlich – nachdem er Gucci 2004 verlassen hatte – Gründer seines eigenen Modelabels, dass er ganz bescheiden Tom Ford International, LLC nennt. Der Mann hat offensichtlich ein Gespür für Mode und Modevermarktung und das sieht man auch seiner Verfilmung des Romans Tony & Susan (1993) an. Bleibt die Frage, ob der Film mehr zu bieten hat als die Schauwerte eines Fashion-Experten.

Völlig überraschend erhält die unglückliche und überarbeitete Galeristin Susan Morrow (Amy Adams) das Romanmanuskript ihres Ex-Mannes Edward (Jake Gyllenhaal), den sie seit Jahren nicht gesehen hat. Der Roman – Nocturnal Animals – handelt vom Familienvater Tony (ebenfalls gespielt von Jake Gyllenhaal), der mit seiner Frau und seiner Tochter nachts auf einer einsamen Landstraße von einer Bande Hillbilly von der Straße gedrängt und bedroht wird. Obwohl er alles versucht einem gewalttätigen Konflikt zu entgehen, eskaliert die Lage bis einer der Angreifer (Aaron Taylor-Johnson) Tony zusammenschlägt und dessen Frau und Tochter entführt. Während Susan die schrecklichen Geschehnisse des Romans liest, wird ihr immer deutlicher bewusst, dass Edward darin ihre eigene gemeinsame Geschichte verarbeitet hat.

Im Folgenden oszilliert der Film zwischen Romanhandlung, Jetzt-Zeit und immer wieder eingestreuten, bruchstückhaften Erinnerungen Susans an ihre Beziehung mit Edward. Und auch wenn die Romanhandlung eindeutig die meiste Leinwandzeit beansprucht, verdient es doch Hochachtung, wie gekonnt Regisseur Ford mit den verschiedenen Zeitebenen jongliert: Da wird hart geschnitten, parallel montiert, manchmal darf das Fiktionale ganz sachte in das Reale übergehen, manchmal wird das Publikum ziemlich brutal von einem Szenario in das nächste geworfen. Und dennoch verliert man nie den Überblick, wo beziehungsweise wann der Film sich gerade befindet. So komplex das Spiel mit den verschiedenen Ebenen ist, so raffiniert schafft er es, seine Zuschauer immer im richtigen Moment abzuholen und ihnen das jeweilige Szenario plausibel zu machen. Gerade bei dem Spiel mit den drei Ebenen bestünde doch sehr die Gefahr, zu kryptisch oder zu surreal daherzukommen, Nocturnal Animals indes ist äußerst aufgeräumt und pointiert, über alle Ebenen und Schachtelsätze hinweg.

Kryptischer ist da schon sein Spiel mit dem in der Geschichte verflochtenen Symbolismus. Dass der Roman Nocturnal Animals auch ein Sinnbild auf die gescheiterte Beziehung der beiden Protagonisten ist, daraus macht Nocturnal Animals keinen Hehl. Und dennoch bleibt er äußerst vage in der Umsetzung dieses symbolischen Schauspiels: Themen wie Ohnmacht, Hilflosigkeit, Angst vor Konfrontation und das Bemühen um Wiedergutmachung werden zwar angedeutet, jedoch nie konsequent parabolisch ausgespielt. Tatsächlich bleiben die Zusammenhänge zwischen den Ebenen oft leicht, entfalten sich weniger wie ein dichtes Netz als viel mehr wie eine Aneinanderreihung loser Fäden, die die Verknüpfungsarbeit gerne den Zuschauern überlassen. So bleibt Jake Gyllenhaal die einzige Person, die sowohl in der Realitäts- als auch in der Romanebene auftaucht, alle anderen Figuren scheinen kaum treffende Pendants in der jeweils anderen Ebene zu besitzen. Die im Roman entfaltete Welt ist nicht nur eine komplett andere als die, auf die wir in der Realität treffen, Konsequenzen funktionieren in ihr auch auf ganz andere Weise. Das geht so weit, dass jeder narrative Link verloren zu gehen scheint, was von der Inszenierung immer wieder mit – teilweise ziemlich plumpen – Bildspiegelungen aufgefangen wird. Diese vage Verknüpfung hat aber auch ihre Vorteile: So wird die von Amy Adams brillant verkörperte Susan zum Avatar des Zuschauers; ihre Interpretation des Geschehens wird zu unserer Interpretation, ihr Blick wird zu unserem Blick, inklusive aller Defizite und Projektionen.

Gerade in seinem letzten Drittel spielt Nocturnal Animals diese Tunnelung des Zuschauerblickes auf kongeniale Weise aus. Mehr und mehr scheint sich die Handlung in ihrer Vagheit selbst zu hinterfragen: Was ist hier überhaupt noch vom Autoren als Spiegelung intendiert und was ist bloße spannende Fiktion? Gibt es überhaupt eine Schnittmenge zwischen der Thriller- und der Beziehungstragödie? Oder erleben wir hier nur noch das Wunschbild einer Beisitzerin, die die Kontrolle über ihre Wahrnehmung längst verloren hat? Nocturnal Animals zelebriert diesen Kontrast und diese Ambivalenz mit der Gegenüberstellung von rohen, unreinen Naturaufnahmen mit der sterilen Welt der Kulturindustrie. Das Sein auf der einen Seite wird stets kontrastiert mit dem Schein der anderen Seite. Gleichzeitig bleibt die sterile, klinische Welt in der Susan lebt stets die Sicherere im Vergleich zum atavistischen Schauplatz der Romanhandlung: Betrug, Entfremdung und Ohnmacht gibt es auch hier, jedoch nie mit den brutalen Konsequenzen, die die nachtaktiven Tiere durchleben müssen. Ford arbeitet geschickt mit seinem Talent, hochklassige und zugleich kalte Bilder zu zaubern und diesen im Kontrast dennoch so etwas wie Heimeligkeit zu geben. Denn so verloren Susans Existenz auch wirken mag, sie scheint in ihrer Selbsthypnose doch so viel geborgener, als der Alptraum, den die Protagonisten des Romans Nocturnal Animals durchleben müssen.

Besonderes Lob gilt hierbei auch den Schauspielern und der Schauspielregie: Gyllenhall und Adams spielen gewohnt erstklassig, neben ihnen überzeugen aber auch Michael Shannon als heruntergekommener Ermittler (und heimlicher Held/Anti-Held der Geschichte) sowie Aaron Taylor-Johnson als brutales nachtaktives Tier. Durch die realistische, empathische Darstellung der komplexen Figuren bewahrt sich Nocturnal Animals jederzeit die notwendige Einfühlung, um nicht zum kalten, seelenlosen Vexierspiel zu werden. Denn gerade durch seine Vagheit flirtet Fords Film immer wieder mit Inszenierungsfetischen eines David Lynch, David Cronenberg, Nicolas Winding Refn oder Yorgos Lanthimos, post-surreale Regisseure, die für viele Qualitäten bekannt sind, aber sicherlich nicht ihre Menschlichkeit. Nocturnal Animals bleibt indes auf menschlichen, oft allzu menschlichen, Pfaden; als exzellenter Hybrid aus Thriller, Tragödie und Mystery, harter Tobak mitunter, aber nie zu verloren, um nicht auch wahrhafte emotionale Reaktionen beim Publikum zu evozieren. Gott sei Dank nicht nur wegen seiner Schauwerte ein absolut sehenswertes Vexierspiel.

Ähnliche Artikel