Corona-Soforthilfe? – Der Schacht von Galder Gaztelu-Urrutia

Menschen brauchen in Krisenzeiten Kunst, die ihnen dabei hilft, die Dinge einzuordnen. Sie brauchen Kunst, um zu verstehen, warum die Gesellschaft, warum der Mensch in der Krise funktioniert, wie er funktioniert. Zumindest scheint dies eine einleuchtende Erklärung dafür zu sein, dass ausgerechnet eine spanische Dystopie – El Hoyo (2019) – derzeit so sehr im deutschen/europäischen Netflix trendet. Ohne Corona und all seine Folgen wäre der Schacht womöglich auf dem Streamingservice untergegangen, oder wäre zumindest dazu verdammt gewesen, in der Nische des SciFi-Symbolismus für Freunde von Cube zu verharren. So hat er es aber einmal auf die große Bühne geschafft und es wird fleißig über ihn geredet. Um das gleich vorweg zu nehmen: Um die Gesellschaft in Zeiten von Covid-19 zu verstehen, taugt dieses kleine abstrakte Thrillerdrama nicht. Aber er wirft Fragen auf. Und das sollte jedem Zuschauer auch bewusst sein: Fragen, keine Antworten. Sein Setup ist viel zu abstrakt und zugleich viel zu holistisch um als soziologischer Leitfaden durch das herrschende Chaos, beziehungsweise die herrschende Ordnung zu leiten. Seine Prämisse stürzt sich viel zu dezidiert eben gerade nicht auf die Krise sondern den Normalzustand, um die gesellschaftlichen Folgen von Corona begreifbar zu machen. Und seine Machart ist viel zu offen, viel zu ungestüm, um mehr zu liefern als Gedankensprünge. Aber in dem, was er ist, gelingt es ihm zeitlose Thesen zu entwerfen und diese in einem apltraumhaften Setting auszuloten.

Goreng (Iván Massagué) hat sich bewusst auf den Aufenthalt im Schacht beworben, ohne genau zu wissen, worauf er sich einlässt. Sechs Monate muss er durchhalten, um danach einen anerkannten Abschluss zu erhalten. Dass er zu den wenigen Freiwilligen hier gehört und diese sechs Monate ein Kampf ums Überleben werden, wird ihm jedoch bereits in der Minute klar, als er seinen Zellen/Ebenennachbarn, den verurteilten Verbrecher Trimagasi (Zorion Eguileor), kennenlernt. Mit ihm soll er die kommenden im Schacht Monate verbringen. Aber was ist der Schacht nun genau? Er ist ein riesiger Abgrund, der sich in der Mitte der Ebenen befindet, auf denen jeweils zwei Gefangene leben. Wie viele Etagen es im Schacht gibt, ist unklar. Klar ist allerdings, dass man weder mit denen über einem redet (denn sie werden nicht antworten), noch mit denen unter der eigenen Plattform. Einmal am Tag, wird in diesen Schacht eine gigantische Plattform heruntergelassen, die voll beladen ist mit den erlesensten Speisen, die man sich vorstellen kann. Sie hält an der ersten Zelle, verweilt dort für zwei Minuten und wird dann weiter zur zweiten Zelle heruntergelassen, um dort ebenfalls zu verweilen. In dieser Zeit haben die jeweiligen Gefangenen Zeit, sich den Bauch vollzuschlagen, bis die Essensplattform schließlich weiterfährt. Wer eine Zelle mit den kleinen Nummern erwischt hat, hat Glück: Es ist reichlich zu Essen da, auch wenn man sich mit den Resten begnügen muss, die die oberen Ebenen übrig gelassen haben. Problematisch wird es, wenn man auf einer deutlich tieferen Ebene landet. Dann nämlich ist nichts mehr zu Essen übrig. Aber der Schacht hat einen Twist: Jeden Monat wird neu gewürfelt. Und jeden Monat erwacht man auf einer anderen Plattform zwischen 1 und 333.

„Natürlich“, ruft da der Symbolismus-erfahrene Kinogänger: „Beim Schacht handelt es sich um eine Metapher auf das kapitalistische System!“ Wollen wir diesem Gedanken kurz folgen, denn in der Tat liegt er auf der Hand: Der Schacht ist der Inbegriff einer hierarchischen konsumorientierten Gesellschaftsstruktur. Die da oben können sich den Bauch voll schlagen, können das festliche Mahl mit allen Sinnen genießen, während denen darunter nur noch die Reste übrig bleiben, bis ganz nach unten zu den Menschen, die im wahrsten Sinne des Wortes verhungern müssen. Die oberen Schichten haben nur Verachtung für die unter ihnen übrig. Gleich zu Beginn – in seinem ersten Monat erwacht Goreng auf der Ebene 48 – spuckt Trimagasi auf die Reste des verzehrten Festmahls, weil „die da oben das genau so machen!“. Er ermahnt Goreng, nicht mit denen unter ihm zu reden, weil sie es nicht wert sind. Und er ermahnt ihn, nicht mit denen über ihm zu reden, weil sie ohnehin nicht antworten. Als sozialer Kontakt bleibt den beiden Männern nur der Partner auf ihrer eigenen Ebene. Und tatsächlich entwickelt sich so etwas wie eine fragile Brüderschaft unter ihnen. In dem kapitalistischen System, auf das Der Schacht referiert, reicht die Solidarität immer nur so weit, so weit die eigene Schicht geht. Goreng und Trimagasi sind Brüder, weil sie sich auf einer Ebene befinden, weil sie dadurch nunmal nur einander haben und folgerichtig sozial aufeinander angewiesen sind.

Menschen schlagen sich den Bauch voll, Menschen kämpfen um die Reste, Menschen verhungern. Das alles schön hierarchisch sortiert. Kapitalismus, keine Frage. Was aber hat es mit diesem Twist auf sich? Jeden Monat wird anscheinend randomisiert bestimmt, wo das jeweilige Zellenpaar seinen nächsten Monat verbringen muss. Im zweiten Monat erwacht Goreng auf Ebene 171. Und er ist an sein Bett gefesselt. Irgendwo zwischen verbittert und freundlich erklärt ihm Trimagasi, dass er zu Kannibalismus gewzungen ist, denn die Essensplattform, die sie erreicht hat nicht mal den kleinsten Bissen auf sich. Das Würfelspiel um die Ebenen ist das Moment, in dem Der Schacht die logisch strukturierte Kapitalismusparabel verlässt. Die Welt, in der sich Turm, Ebenen und Plattform befinden ist nämlich so fluide, wie der Kapitalismus selbst nie sein wird. Jeden Monat wird neu gewürfelt, jeden Monat entscheidet das Schicksal neu. Besitz gibt es in dieser Welt nicht, wird man doch gar dafür bestraft, wenn man versucht Essen zu horten. Im Schacht gibt es keine strukturell bedingte Ungerechtigkeit, kein festes die da oben, kein starres die da unten. Stattdessen herrscht hier viel mehr eine strukturell bedingte, tödliche Gerechtigkeit. Denn jeder, egal wie hoch oben er steht, kann im nächsten Moment ganz unten landen.

El Hoyo beschäftigt sich dann auch im Folgenden erst einmal weniger mit dem System als viel mehr mit den Menschen, die in ihm leben. Trimagasi ist ein Schuft, egal auf welcher Ebene er sich befindet. Seine Bösartigkeit kommt in der Verzweiflung zwar stärker zum Vorschein, aber auch in den obersten Etagen ist er von Opportunismus und Egoismus angetrieben. Ganz anders Goreng, der von Anfang an seine Menschlichkeit bewahren will, egal ob in Ebene 5 oder 5000. Jeder der Insassen hat die Erlaubnis, einen persönlichen Gegenstand im Schacht bei sich zu führen. Goreng hat sich für ein Buch entschieden. Don Quijote, der 400 Jahre alte Romanklassiker von Miguel de Cervantes. Das ist selbstverständlich kein Zufall. Don Quijote ist der verwirrte Adelige, der sich durch den Konsum von zu vielen Ritterromanen bemüßigt fühlt, selbst ein Ritter zu werden, der Realität und Fiktion nicht mehr auseinanderhalten kann und immer nach neuen Möglichkeiten sucht, vermeintlich in Not Geratenen zu helfen. Auch Goreng ist ein verzweifelter Don Quijote, nicht unbedingt, weil das Unrecht, dass er im Schacht sieht, nicht existieren würde, sondern viel mehr, weil er nicht der Ritter ist, der die Gefangenen retten kann. Gesellschaft leisten ihm verschiedene Sancho Panzas, die ihn aus diesem oder jenen Grund für einen Auserwählten halten. Und sie alle müssen für ihre Hoffnung büßen. Selbst der Zyniker Trimagasi scheint in Goreng einen besonderen, zumindest einen besonders netten, zum Überleben zu freundlichen Menschen zu sehen. Die Frau, bei der Goreng sein Bewerbungsverfahren für den Schacht durchlief, Imoguiri (Antonia San Juan) glaubt gar, dass Goreng aus einem konkreten Grund im Schacht gelandet ist und versucht ihn mit viel Eifer von dem Konzept der spontanen Soildarität zu überzeugen. Und der tumbe Baharat (Emilio Buale) würde Goreng überall hin folgen, und sei es in den Tod.

Aber Goreng ist eben kein klassischer Held, kein Ritter und keine Erlöserfigur. Nach bereits kurzer Zeit im Schacht beginnt er den Zynismus der anderen Gefangenen zu adaptieren. Auch er ist von Wut, Rachdurst und schierem Überlebenswillen getrieben, auch er ist schließlich dazu bereit, sämtliche Menschlichkeit über Bord zu werfen, um seine Ziele durchzusetzen. Sein erfolgloser Kampf gegen Windmühlen lässt ihn selbst zum Schuft werden. Hier etabliert El Hoyo die zweite Ebene seiner Parabel, deutlich subtiler als die erste, aber mit deutlich höherer Sprengkraft. Die Frage, die im Raum steht, ist, was ist man bereit zu tun, um ein falsches System zu sprengen. Natürlich gibt es Versuche dazu, und natürlich ist Goreng schließlich der, der den radikalsten Versuch wagt. Das Wort „Botschaft“ spielt in diesem Versuch die zentrale Rolle. Was zählt, ist nicht mehr das Überleben, nicht mehr das Erzeugen von Gerechtigkeit und Solidarität, was zählt ist nicht mehr das menschliche Leben, sondern die Botschaft, das Symbol. Mit diesem Gedanken fährt der Film tief hinab bis auf die untersten Ebenen des Schachtes. Zu den Orten an denen nur noch menschliches Leid und menschliche Grausamkeit herrschen. Ob dieses bedingungslose Fokussieren auf die Botschaft erfolgversprechend ist, lässt Der Schacht dankenswerterweise offen. Die, die nach oben das Unrecht und den Kampf dagegen kommunizieren wollen, sind ebenso wie die, die ums Überleben kämpfen, längst hoffnungslos Verlorene. Ihre Botschaft ist weniger von Sinn erfüllt und viel mehr ein im religiösen Eifer entwickeltes Konzept, Subversion durch ein kleines Symbol, weil ihnen darüber hinaus die sprachlichen Mittel fehlen. Dieses Symbol könnte gesehen, könnte verstanden werden, und könnte vielleicht ganz oben sogar Fragen aufwerfen. Dieses Symbol könnte aber auch ein sinnloses Bild bleiben, ein Zufall, ein kleiner Riss im System, der keine Konsequenzen hat.

Am Ende entscheidet sich der Film dazu, dieses Symbol zu ändern und wahr sich damit den Vorbehalt der Hoffnung. Es ist ein Stück Humanismus, der über das Religiöse siegt. Aber selbst dieser Sieg schmeckt bitter auf der Zunge angesichts der Verheerungen, die er mit sich trägt. Der Schacht ist kein hoffnungsvoller Film, auch wenn er sich ein Stück Hoffnung bewahren will. Er ist kein Manifest für die Menschlichkeit, aber auch keine zynische Versuchsanordnung. Stattdessen ist er die spannende Kreuzung zweier Parabeln, die beide nicht zu Ende gedacht oder zu Ende erzählt werden, aber gerade dadurch auch ihre Tiefe und Stärke bewahren. Corona werden wir durch diesen (ehemaligen) Geheimtipp nicht verstehen, Kapitalismus und Religion ebenso wenig. Aber wir werden ihnen Dank ihm das nächste Mal vielleicht mit neuen Fragen begegnen.

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