Vivarium (2019) und der Horror der Vorstadt

Wenn es nach dem US-amerikanischen Kino geht, sind die Suburbs der Ort, an dem Träume wie Menschen sterben. Ein ganzes Subgenre des Horrorkinos der 80er Jahre – der Slasher-Film – lebte davon, dass sich anonyme Serienkiller in den hübschen Vorgärten verstecken konnten, um nachts die ebenso hübschen wie gleichgeschalteten Häuser heimzusuchen. Regisseure wie Sam Mendes nutzten den Mief des vermeintlich glücklichen Ortes, um große menschliche Tragödien zu erzählen, von American Beauty bis Zeiten des Aufruhrs. Und Spike Jonze und Arcade Fire erklärten in ihrem Kurzfilm Scenes from the Suburbs (2011) die ganze Ortschaft gleich zum Bürgerkriegsgebiet. Die Leinwand hat nur selten ein gutes Haar an den amerikanischen residential areas gelassen. Allenfalls in Serien wie Wunderbare Jahre werden sie ein wenig verklärt, aber selbst da nicht ohne Problematisierung und Politisierung. Es liegt ja auch irgendwie auf der Hand, den Schrecken dieser Orte hervorzukehren, die sich im kulturellen Gedächtnis irgendwo zwischen Traum (für die, die es nie dorthin schaffen) und Alptraum (für die, die dort gefangen sind) eingebrannt haben. Der irische Filmemacher Lorcan Finnegan geht in seinem Mysterythriller Vivarium (2019) noch einen Schritt weiter. In seiner Vision verwandeln sich die suburbs vom symbolischen ins wortwörtliche Gefängnis, und der Schrecken verbirgt sich nicht hinter den Fassaden, sondern ist Teil des Konzepts.

Auf ihrer Suche nach einem neuen gemeinsamen Domizil stolpern Gemma (Imogen Poots) und Tom (Jesse Eisenberg) ins Büro des Immobilienmaklers Martin (Jonathan Aris). Obwohl sich dieser ausgesprochen merkwürdig verhält, lässt sich das Paar überreden, zu der von ihm angepriesenen Wohnanlage Yonder zu fahren. Diese entpuppt sich als monotoner, spießiger Alptraum: In Reih und Glied stehen zahllose gleich aussehende Häuser mit gleich aussehenden Vorgärten in gleich aussehenden Straßen im eintönigen Grün und Grau. Gemma und Tom ist ziemlich schnell klar, dass sie in dieses – bisher komplett unbewohnte – Wohngebiet nie und nimmer einziehen wollen. Doch ehe sie Martin eine Absage erteilen können, ist dieser verschwunden. Als sie selbst aus der Vororthölle fliehen wollen, mag ihnen dies nicht so recht gelingen. Immer wieder scheinen sie in dem monotonen Labyrinth im Kreis zu fahren, immer wieder landen sie an dem Haus, dass sie sich gemeinsam mit dem Makler angesehen hatten. Eine Flucht scheint unmöglich. Schließlich finden Sie vor ihrem gezwungenermaßen neuen zu Hause einen Korb mit einem Baby darin, und eine Nachricht: „Zieht dieses Kind groß, und ihr werdet freigelassen.“

Vivarium ist eigentlich der Sammelbegriff für sämtliche Tierhaltungsanlagen von Aquarien über Terrarien bis zu Aquaterrarien (Danke Wikipedia ♥). Und in der Tat müssen sich unsere beiden Protagonisten in diesem Film wie gefangene Tiere fühlen, wenn sie feststellen, dass es aus dem leergefegten, sterilen wie mysteriösen Vorort Yonder kein Entkommen gibt: Ob sie nun Teil eines außerirdischen Experiments sind, ob sie als Sklaven für die Aufzucht des Nachwuchses gehalten werden, oder ob ganz andere Motive hinter ihrer Gefangenschaft stehen, lässt Vivarium – wie es sich für einen astreinen Mysterythriller gehört – lange Zeit offen. Aber der Mysterybausatz ist nur ein Aspekt dieses kleinen gehässigen Horrorstreifens. Mit seinem schrägen Humor, der von Anfang an präsent ist und auch beim Anziehen der Daumenschrauben nie ganz fallen gelassen wird, empfiehlt sich Vivarium als bissige Satire, als schwarzhumorige Parabel auf den Horror eines gepflegten Vorstadtidylls. In dieser Funktion ist Vivarium alles andere als subtil. Mit dem Vorschlaghammer wird ordentlich auf das Motiv „Leben in den Suburbs“ eingedroschen. Der Horror des Ortes wird ohne große Umschweife zum Horror des jungen Familienlebens weitergesponnen. Wenn Gemma und Tom mit müden Gesichtern ihrem monströsen Baby ein Frühstück zubereiten, wenn alle Lebensmittel gleich fade schmecken und die einzige Unterhaltung in ohrenbetäubendem Lärm aus dem kakophonen Fernseher besteht, hat Vivarium sichtlich Vergnügen daran, alle erdenklichen dystopischen Merkmale der residential areas einmal vor seinem Publikum auszubreiten.

Subtil mag dieses Szenario nicht sein, dafür ist es meistens on point, wunderbar geschliffen und von jeglichem Ballast befreit. Schnell arrangieren sich die beiden Gefangenen mit dem neu gefundenen Unglück. Tom geht sogar wieder einer regelmäßigen Arbeit nach, indem er wie ein besessener den Vorgarten umgräbt, in der Hoffnung doch noch einen Ausgang, eine Fluchtmöglichkeit zu finden. Gemmas Strategie dagegen besteht darin sich widerwillig, aber verantwortungsbewusst, um das aufoktroyierte dritte Familienmitglied zu kümmern. Glücklich sind beide in ihren neuen Rollen nicht, aber mit schmerzhafter Miene und einem Hang zum Masochismus versuchen sie dennoch, diese so gut es geht auszufüllen. Die schönsten Momente von Vivarium sind die, in denen er verzweifelt versucht, so etwas wie Harmonie in diesen Alptraum einzupflanzen, die Momente, in denen er auf wirklich gehässige Art durchleuchtet, wie Mensch sich an jedes Unglück, an jede Gefangenschaft gewöhnen kann und in dieser seinen Platz findet. Trotz seines parabolischen Setups haben wir es hier aber nicht mit einem surrealistischen Experimentalfilm zu tun. Vivarium findet immer wieder zurück zum Horror, zum Mysterythriller, zur schrägen, kafkaesken Komödie und entblättert in diesem Genre auch sachte wesentliche Plotpoints, jedoch ohne dabei zu geschwätzig zu werden.

Vor allem ein bizarrer Höllenritt Gemmas, der im letzten Drittel des Films offenbart, wie weitreichend dieses absurde Gefängnis ist, gehört dabei zu den emotional stärksten und erschreckendsten Momenten Vivariums. Hier gelingt es dem Film äußerst beeindruckend, die Hintergründe hinter den Geschehnissen aufzudecken, ohne dass diese zum simplen Gimmick verkommen. Einen richtigen Aha-Moment gibt es keinen, aber immer weiter laufende Erkenntnisse mit schwerwiegenden Implikationen. So richtig will Vivarium sein Szenario nicht aufklären, will sich noch einen Rest Rätsel bewahren. Das Ende des Films dürfte so manchen Zuschauer nicht zufrieden stellen, selbst wenn die wesentlichen – und einige unwesentliche – Eckpunkte des Plots zu einem kohärenten, runden Abschluss finden. Hier ist Vivarium dankenswerterweise weit entfernt vom üblichen Mystery-Schmuh, ohne jedoch zum reinen, experimentellen Avantgarde- und Surrealismus-Fingerspiel zu werden. Das verhindern allein schon Imogen Poots und Jesse Eisenberg, die in ihre Rollen alles an Verzweiflung reinlegen, was sie finden können. Vivarium ist ein simpler, kleiner und gehässiger Bastard aus Mysterythriller, Robinsonade, Satire und pechschwarzem Horror. Alles andere als subtil oder vieldeutig, dafür aber eine perfekt auf den Punkt gebracht düstere und dystopische Vorortdekonstruktion.

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