Surrealismus lebt! – Reality (2014) von Quentin „Mr. Oizo“ Dupieux

Ein gelbes Kuscheltier namens Flat Eric sitzt in einem pittoresken Büro am Telefon und grunzt irgendwas in den Hörer. Schließlich legt er eine Platte auf und die Flat Beats legen los. Wir schreiben das Jahr 1999 und Flat Beat von Mr. Oizo ist der heißeste Scheiß. Selbst Leute, die mit Techno nichts anfangen können sympathisieren mit dieser Kunstfigur, die unter dumpfen elektronischen Klängen Verträge mit roten Kritzeleien signiert, Würstchen inhaliert als wären sie Zigarren, mit der Computertastatur im Rhythmus klackert und anscheinend in der ganzen Welt herumtelefoniert, um seine Musik zu promoten. Dass der erfolgreiche Videoclip Inspiration für zahllose nervige Musikvideos der frühen 2000er wie Crazy Frog sein würde, konnte damals ja noch niemand ahnen und ist dem Musiker und Regisseur Quentin Dupieux aka Mr. Oizo kaum vorzuwerfen. Aber dieser kurze und prägnante Videoclip verrät schon viel über den französischen Experimentalisten, der spätestens mit dem verqueren selbstreferenziellen Horrorstreifen Rubber (2010) einige Berühmtheit in der obskuren Filmecke erlangen sollte. Und was verrät es? Monsieur Dupieux will Spaß haben. Wenn unterwegs dabei noch Kunst herauskommt, umso besser. Und so viel Spaß wie bei seiner Bizarrerie Reality (2014) hatte der französische Multikünstler wahrscheinlich noch nie.

Wie nähert man sich einem solchen Werk, das derart abgefahren, experimentierfreudig und realitätsnegierend ist? Vielleicht erst einmal, indem man festhält, dass das was Duieux macht alles andere als neu ist. Viele Surrealisten und Experimentalfilmer vor ihm haben sich schon in der Auflösung klassischer Erzählungen geübt, haben Traum und Realität, Fiktion und Selbstreferenzialität gekreuzt, haben Geschichten miteinander verwoben, die vierte Wand gebrochen und dem Publikum so manche inszenatorischen Streiche gespielt. Was an Dupieux tatsächlich besonders ist, und das sei hier noch einmal hervorgehoben, ist der Spaß, den er dabei hat. Während ein David Lynch alles gibt, um aus seinen Brüchen blanken Horror entstehen zu lassen, während ein Luis Buñuel immer einen politischen oder sozialkritischen Subtext im Kopf hat, während es einem Alejandro Jodorowsky immer um die Aufhebung der menschlichen Wahrnehmung in einem spirituellen Rausch zu gehen scheint, will Dupieux in erster Linie spielen: Mit sich, seinem Sujet, seinen Protagonisten und Protagonistinnen und vor allem mit seinem Publikum. Reality ist ein schräger, experimenteller Film, tief in den Traditionen des Surrealismus und Experimentalfilms verhaftet, aber er ist nie prätentiös, nie intellektuell oder akademisch, sondern praktisch die ganze Zeit über ein einziger spaßiger Schabernack.

So viel Text und wir sind immer noch nicht beim eigentlichen Inhalt dieser Satire angekommen. Nun, zum einen raubt eigentlich jedes inhaltliche Exposé ein wenig den Spaß an diesem koboldartigen Streich, zum zweiten ist es gar nicht so einfach, etwas zusammenzufassen, was keinen Zusammenhalt und keine Kohärenz kennt. Diese entsteht irgendwie, irgendwann auf halber Strecke, aber auf eine sehr groteske Art und Weise. Dupieux verknotet seine Einzelepisoden um mehrere Ecken und Enden und lässt sie dann so zusammenlaufen, dass der gesamte Film fast wie ein Bild M. C. Eschers anmutet. Unmöglich aufzulösen, ständig um sich selbst gewunden. Da wäre zum Beispiel die titelgebende Protagonistin, die zehnjährige Reality (Kyla Kenedy). Diese entdeckt, während ihr Vater – ein Jäger -, ein erlegenes Wildschwein ausweidet, eine blaue Videokassette, die sich im Magen des Tieres befand. Was auf dieser Kassette drauf ist, ist eine der großen Fragen, die fortan in dem Film omnipräsent sind. Aber existiert Reality überhaupt in Wirklichkeit? Schließlich sehen wir doch die Aufnahmen, die sie beim Schlafen zeigen in einem Film des alten, exzentrischen Regisseurs Zog (John Glover), der sein Werk fortwährend vor einem egomanischen Produzenten verteidigen muss. Möchtegernregisseur Henri dagegen (Eric Wareheim) möchte diesen Produzenten von seinem Horrorfilmplot überzeugen, sucht dafür aber noch nach dem perfekten Schrei. Seine Frau ist übrigens Therapeutin, die einen Lehrer Realitys wegen dessen schräger Alpträume (die für Reality Realität sind) therapiert. Und dann gibt es da noch den Fernsehmoderator mit scheinbar eingebildetem Hautausschlag, dessen Dermatologen mit ziemlich realem Hautsausschlag, ein paar Besetzungswechsel, eine selbstreferenzielle Gute Nacht Geschichte, vermeintliche und echte Doppelgänger und schließlich sogar die Offenbarung, was auf dem mysteriösen Videoband zu sehen ist.

Klingt abgehoben? Wäre es auch, wenn Dupieux nicht so viel Spaß an seinem Stoff hätte. Auch andere Surrealisten, wie der bereits genannte Buñuel bedienen sich oft und gerne dem Mittel der Komik, aber niemand macht das so konsequent wie Mr. Oizo. Natürlich hat es sich Reality auch zum Ziel gesetzt, sein Publikum zu verwirren, verwobene Handlungsfäden zu bilden, die sich nicht entknoten lassen, Paradoxien zu erzeugen und dabei stets auf sich selbst zu referieren, im Vordergrund steht aber ganz und gar sein bizarrer, grotesker Humor. Es gibt viele Momente, die (im wahrsten Sinne des Wortes) schreiend komisch sind: Wenn Henri sich über den Sturz eines seiner Kollegen freut, weil dabei ein besonders intensiver Schmerzensschrei entsteht, wenn Reality ständig daran gehindert wird das Videoband zu sehen (begleitet von Zogs Beharren darauf, dass ein guter Film die Geduld des Publikums herausfordern muss), wenn in einem Kino Rubber 2 läuft, dann ist das einfach mal sau komisch. Viel von seinem Humor erhält Reality dabei aus seiner Selbstreferenzialität. Neben dem Surrealismus ist die postmoderne Metatextualität sein zweites großes Steckenpferd. Permanent greift Reality auf sich selbst als Film zurück, rückt Filmschaffung und Filmrezeption in seinen Mittelpunkt, kommuniziert direkt mit dem Publikum oder löst vermeintlich echte Geschehnisse als Filmbilder auf. Gerade in dieser Komplizenschaft mit dem Publikum besteht natürlich eine große Gefahr, dass der gesamte Film – inklusive seiner Rezeption – zum gigantischen, selbstverliebten Circle Jerk wird. Und in der Tat ist Reality nicht ganz frei von einem gewissen Narzissmus, einer übertriebenen, großmäuligen Begeisterung für seine eigene Beschaffenheit. Aber auch in diesem Fall gilt: Wenn ein Film derart viel Spaß macht, derart komisch ist, dann darf er auch ruhig ein bisschen großmäulig sein.

Trotzdem sei an dieser Stelle noch einmal vorgewarnt: Reality ist durch und durch ein Werk des Surrealismus und des Meta-Films. Wer auf Immersion und kohärent erzählte, plausibel geschnittene Geschichten steht, wird hier weitaus weniger Spaß haben als der Rezensent dieser Review. Wer allerdings gegen ein bisschen Surrealismus, ein bisschen Gehirnakrobatik oder gar Hirnficks nichts einzuwenden hat, dürfte hier ne Menge Freude finden. Nicht zuletzt Dank seiner kompakten Laufzeit und seinem großteiligen Verzicht auf – in dem Genre doch oft übliche – Längen und Redundanzen ist Reality fast so etwas wie Surrealism Light. Gut zu konsumieren, gut wegzuschauen, und dabei noch verdammt unterhaltsam und komisch. Und angesichts der Tatsache, dass man heutzutage viel zu selten guten, extravaganten Surrealismus im Kino geboten bekommt, eine Pflichtveranstaltung für jeden Liebhaber, für jede Liebhaberin des Genres.

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