Die extremen, polarisierenden und kontroversen Filme der 90er Jahre I

Wenn man diese Kategorie mit der selben der 2000er Jahre vergleicht, stellt man fest, dass die Kinozuschauer und vor allem Kritiker in den 90ern weitaus dünnhäutiger waren als im 21. Jahrhundert. Scheinen die extremen und kontroversen Filme der letzten Dekade tatsächlich infam bis zur berechtigten Wut vieler Zuschauer, wirken die 90er dagegen fast schon handzahm; oft genug scheinen die provokanten Filme wie Basic Instinct dem Prinzip „Viel Lärm um nichts“ zu folgen. Aber das ist retrospektiv natürlich leicht zu sagen und wer weiß schon, wie das Publikum in zehn Jahren über die Aufreger unserer Zeit schmunzeln wird… Egal, auch die 90er waren für so manche cineastische Provokation, für so manchen Tabubruch gut. Und mitunter hatte die Aufregung um den jeweiligen Film auch eine gewisse Berechtigung. Auch an dieser Stelle gilt wie beim letzten Mal: Nicht alle hier auftauchenden Filme sind Meistwerwerke, manche fallen sogar eher in die Kategorie ‚unterdurchschnittlich‘. Aber durch ihren Mut beziehungsweise ihre Dreistigkeit oder eben auch ihre offene Infamität haben sie sich ihren Platz im Filmkanon verdient… und sei es nur, um daran zu erinnern, dass das Kino auch immer ein Ort der Skandale und Skandälchen sein kann.

Kids [Larry Clark]

(USA 1995)

Saufende, Drogen konsumierende, gewaltbereite und vor allem vögelnde Teenager. Letzter Punkt war für den Skandal gut, den Kids im Feuilleton auslöste. Tatsächlich kann Larry Clark einen gewissen Hang zur Teenagererotik nicht verbergen. Dieser zeigt sich noch nicht einmal so sehr in den Sexszenen (in denen es dann runter bis 13 Jahre geht), sondern vor allem in dem Ästhetizismus, mit dem er die Körper seiner jungen Protagonisten in Szene setzt. Da gibt es viel nackte, verschwitzte Haut von gerade dem Kindsalter Entwachsenen zu sehen, da wird mit einer gewissen hebephilen Homoerotik kokettiert und das Herumreichen eines Joints zwischen drei wirklich jungen Jungen zum eskapistischen Bilderbogen, der an Clarks Fotobände (Teenagelust) erinnert. Aufregen darf man sich gerne auch über die unverfrorene Gewalt, die seminaturalistische vulgäre Slangsprache, das unrealistische Multikulti-Gang-Setting und den penetrant erhobenen Zeigefinger. Kids ist dennoch ein packendes, hervorragend zwischen Stilisierung und Realismus inszeniertes Independentdrama, das den Finger auf Wunden der amerikanischen Gesellschaft legt, viel Respekt vor seinen ambivalenten Charakteren hat und darüber hinaus auch noch äußerst schick aussieht.

Natural Born Killers [Oliver Stone]

(USA 1994)

War es bei Kids der sexuelle Eskapismus, so sorgte in Natural Born Killers die affirmative Stilisierung der Gewalt für Empörung. Und auch hier passt der Vorwurf partiell: Natural Born Killers tarnt sich als Mediensatire, um dann – entweder hoffnungslos naiv oder infam bigott – der selben Begeisterung für seine Protagonisten zu erliegen, die er zuvor noch kritisierte. Die Killer sind cool, sexy, attraktiv, sympathisch… Natural Born Killers schlägt wild mit seinem zynischen Sarkasmus um sich, balanciert dabei auch immer ein wenig an der Menschenverachtung entlang und hat sichtlich Spaß dabei; kann also seine (berechtigte) Medienschelte auch gleich an sich selbst exemplifizieren. Aber auch hier gilt trotz gewisser Bigotterie: Der Film ist sehenswert. Unabhängig von moralischen Kategorien inszeniert Stone mit dem medialen Schlachtfest (im mehrdeutigen Sinne) einen seiner besten Filme: Ein blutiger, bunter Rausch, inszenatorisch vollkommen over the Top, satirisch, überspitzt, bar jeder Vernunft und jeglichen Realismus. Ein wirklich böser, dreister Film, der aber einfach verdammt gut in seine Zeit – und auch darüber hinaus – passt.

Funny Games [Michael Haneke]

(Österreich 1997)

Während die Satire Natural Born Killers der Faszination ihres eigenen Sujets erliegt und dadurch als Metawerk scheitert, lässt es Haneke in Funny Games nicht im Ansatz so weit kommen. Auch hier wird die mediale Verarbeitung von Gewalt thematisiert; in spröden, grimmigen Bildern, in der langsamen Erzählhaltung des europäischen Arthauskinos. Anstatt die Medien anzugreifen, richtet sich Haneke direkt gegen die Zuschauer, dem die metamediale Moral geradezu um die Ohren geschlagen wird. Den Vorwurf ein schrecklich didaktischer Demagoge und Dogmatiker zu sein, muss er sich seitdem mit einer gewissen Berechtigung gefallen lassen. Immerhin beißt er mit Funny Games in jene Hand die ihn füttert, lässt die beiden brutalen, sadistischen Protagonisten zu Verbündeten der Zuschauer werden und nutzt die Chancen, dies dem Publikum eiskalt belehrend ins Gesicht zu sagen. Funny Games ist ein mutiger Film, weniger wegen seiner Brutalität (die niemals explizit gezeigt wird) als viel mehr wegen seinem messerscharfen Schnitt direkt in die Kehle des Publikums. In seiner Schonungslosigkeit kritisierbar, in seiner Dialektik angreifbar, als bahnbrechender Meta-Film aber durch und durch sehenswert.

Diesen Film haben wir auch in unserem Podcast besprochen.

JETZT REINHÖREN

Menschenfeind [Gaspar Noe]

(Frankreich 1998)

Mit so etwas wie Metatextualität hält sich der französische Skandalregisseur Gaspar Noe (Enter the Void) nicht auf. Menschenfeind schlägt mit aller zynischen und nihilistischen Wucht zu, die er in sich selbst finden kann. Er taucht tief hinab in das Innere einer gekränkten Seele und findet mehr denn Empathie für den existenziell verwahrlosten Hauptakteur. Dies führt zu einer in der Bildsprache rabiaten, in ihrer Konsequenz ethisch verstörenden Szene in der sowohl Moral als auch Antimoral, Fürsorge, Verbitterung und purer Instinkt aufeinanderprallen. Auch darüber hinaus ist der Menschenfeind alles andere als leichte Kost. Über dem ganzen Film schwebt nicht nur etwas Düsteres, Misanthropisches nahezu Apokalyptisches, sondern auch Empathie und sogar Sympathie für diese konsequent kolportierte Weltsicht. Gerade wegen dieser Kompromisslosigkeit ist Gaspar Noes auf Zelluloid gebanntes soziales Schreckgespenst ein bedingungslos sehenswerter Film.

Romper Stomper [Geoffrey Wright]

(Australien 1998)

Empathie für das „Böse“ kolportiert auch der australische Neonazi-Film „Romper Stomper“, schwitzt sein Scheitern dabei jedoch aus jeder einzelnen Pore. Das liegt weniger daran, dass sich die Inszenierung mit Neonazis verbrüdert als viel mehr an der fast schon lächerlichen Konsequenz, mit der deren Weltbild auf der Leinwand überstilisiert wird. Romper Stomper liegt kein natürliches Interesse an seinem Sujet zu Grunde, stattdessen biedert sich seine Ästhetisierung des Naziskin-Lebens an die dargestellten Akteure an. Das geht so weit, dass die vietnamesischen Antagonisten zur identitätslosen Bedrohung, zum Prügelfutter ohne Individualität werden (inszeniert im Stile eines platten Actionfilms der 80er Jahre). Zusätzlich schwingt dann vollkommen unglaubwürdig – selbstverloren – eine penetrante Metamoral ins Geschehen, ohne die Begeisterung an der Subkultur auch nur im geringsten zu brechen, was die versuchte Investigation umso peinlicher werden lässt. Der Film hat sich zum Kultfilm in der Neonaziszene entwickelt, kein Wunder bei so viel missglückter Empathie und abgebrochenem Zeigefinger.

Nicht ohne meine Tochter [Brian Gilbert]

(USA 1991)

Jubeln darf „rechts außen“ auch bei Brian Gilberts Verfilmung von Betty Mahmoodys Bestseller „Nicht ohne meine Tochter“. Unabhängig von aller angebrachten Kritik am Islamismus, dem chauvinistischen Patriarchat in großen Teilen des Irans und der hier stattgefundenen Gefangenschaft (deren Hintergründe aber nach wie vor umstritten sind), ist „Nicht ohne meine Tochter“ ein ärgerlich eindimensionaler, oberflächlicher Kitschstreifen, in dem so ziemlich jeder Iraner oder Muslim eine potentielle Bedrohung, ein potentieller Gewalttäter und Vergewaltiger ist, in dem Freiheit natürlich nur in der westlichen Welt stattfinden kann und zu deren Symbolisierung die USA-Flagge bestens geeignet ist. Ein Clash of the Cultures als stereotypes Hollywoodepos und patriotische Schnulze, die in ihrem Eifer bis hin zum Rassismus geht. Nicht nur nicht sehenswert, sondern tatsächlich ärgerlich und ein Schlag in die Magengrube all derer, die sich bemühen, die Klüfte zwischen der arabischen und westlichen Welt zu überbrücken.

Ähnliche Artikel

Erstveröffentlichung: 2011