Netflix-Serienempfehlung: The Umbrella Academy, Staffel 1

Netflix ist ja gerade (gezwungenermaßen) so ein bisschen dabei, in seinem Marvel Universum aufzuräumen. Konkret heißt das: Es wird gecancelt, was sich noch canceln lässt. Nach Luke Cage, Iron Fist und sogar dem Marvel-Netflix-Flagschiff und Pionier der Superheldenserien Daredevil trifft es nun auch Jessica Jones und The Punisher. Das Netflix/Marvel-Dreamteam gehört damit der Vergangenheit an. Natürlich ist es leicht, hinter all dem wirtschaftspolitische Interessen zu vermuten: Während Disney fleißig an seinem eigenen VoD-Service arbeitet, musste Netflix ordentlich in die Tasche greifen, um die zu Disney gehörenden Marvelproduktionen zu lizenzieren. Aber es dürfte noch mehr dahinter stecken, dass selbst die Kritikerlieblinge unter den Superheldenserien ins Off verschwinden: Eine gewisse Sättigung, wenn nicht gar Übersättigung hat sich breit gemacht, was seriell erzählte Superheldenstoffe betrifft. Das Marvel Cinematic Universe, das immer wieder neue Publikums- und Kritikerlieblinge produziert, ist einfach nicht die Regel, sondern die Ausnahme. DC stolpert im Kino von Verriss zu Verriss, während seine Serien gerade mal unter „ferner liefen“ verbucht werden können und irgendwo in den schattigeren Ecken von Amazon Prime ihr trauriges Dasein fristen. Und auch die zahllosen Marvels blieben von der Übermüdung des Publikums und der Kritik nicht unberührt, was schließlich dazu führte, dass neue Serien-Iterationen in den letzten Jahren immer argwöhnischer betrachtet wurden. Selbst gelungene Variationen der klassischen Superheldenschemata sorgten eher für wohlwollendes Nicken als für wahre Begeisterungsstürme und selbst progressivere Formate wie Jessica Jones standen doch immer im Schatten der einfach zu viel vorhandenen cineastischen Begleiter.

Superheldenstoffe der 2010er Marvel/DC-Schiene haben schlicht und ergreifend ein quantitatives Problem. Es gibt zu viele, die sich zu sehr ähneln: Ein bisschen Drama, ein bisschen Düsternis, ein bisschen Gesellschaftskritik und viel Action, viel Spektakel und viel Comicleidenschaft. Das funktioniert auf der großen Leinwand mit viel Budget wie im Fall Infinity War; und das wirkt unglaublich schnell unglaublich generisch, wenn es dem Blockbausterzauber und Budget beraubt wird, wie im Fall Luke Cage oder Iron Fist. Während Marvel zumindest in der Serienlandschaft also gezwungenermaßen einen Gang zurückschalten, schleicht sich plötzlich eine Comicschmiede nach vorne. Dark Horse war schon immer so etwas wie der kleine, böse Zwillingsbruder aus einer Paralleldimension: Mit Comics wie The Mask, Hellboy oder Sin City war der Publisher immer für die etwas abseitigeren, bizarreren und familienunfreundlicheren Setups gut. Und gerade wenn einem die allzu strahlenden, allzu perfekten Marvel-Helden und -Heldinnen zu viel werden findet man bei Dark Horse gut und gerne Comic-Topoi, die derart neben der Spur laufen, dass sie eine willkommene Abwechslung zu den bekannten Comicuniversen sind. So auch die Figuren der Umbrella Academy, die heuer auf Netflix ihren TV-Einstand feiern und wenig mit den bekannten Superheldenklischees zu tun haben.

Im Grunde genommen gehört der Plot der Umbrella Academy zu den Plots, die an Stärke verlieren, je mehr man über sie im Vorhinein weiß. Daher an dieser Stelle wirklich nur die gröbsten Eckdaten: Es geht um 43 Kinder, die im Jahr 1989 durch eine unberührte Empfängnis geboren wurden. Es geht um einen reichen Kauz, der sieben dieser Kinder adoptiert und in der von ihm gegründeten Schule – der namensgebenden Umbrella Academy – zu Superhelden erzieht. Es geht um Fähigkeiten, die mal mehr, mal weniger klassisch sind. Und es geht vor allem um die mittlerweile erwachsen gewordenen Kinder und wie sie mit ihrem ungewöhnlichen Lebensweg umgehen. Und natürlich kratzt diese Kurzzusammenfassung gerade mal an der Oberfläche. Denn dahinter verbergen sich zahllose Themen und Handlungsstränge, die sich wie ein übermächtiges Geflecht über die Serienhandlung legen und im Nachgang doch erstaunlich kohärent miteinander verbunden sind. Um nur ein paar Stichworte in den Raum zu werfen: Kommunikation mit Geistern, Zeit- und Raumreisen, Paralleldimensionen, lovecraftsche Superkräfte, Dr. Who’sche Superkräfte, Phoenix’sche Superkräfte, Determinismus und freier Wille, skurrile Auftragskiller, mysteriöse Organisationen im Hintergrund, JFK, sprechende Schimpansen, Superroboter und natürlich das Ende der Welt. Schon schwindelig?

Keine Sorge, das gehört zum Konzept. The Umbrella Academy hat große Freude daran, sein Publikum mit unzähligen Motiven und gerne auch losen Handlungsmomenten zu überschütten. Dabei ist es erfreulich expositionsfrei und setzt bei seinen Zuschauern ein hohes Maß an Akzeptanz für krude, unerklärte und unerklärliche Phänomene voraus. Erklärt oder gar mit Hintergrund ausgestattet wird hier wenig. Stattdessen wird von uns vorausgesetzt, uns erst einmal in dem oft wirren, mitunter fast surreal wirkenden Szenario zurechtzufinden. Gestützt wird dies von einer ebenso surrealen Zeitlosigkeit. Auch wenn der Zeitraum der Umbrella Academy klar von den späten 80ern bis in unsere Zeit verortet ist, bemüht sich die Serie gar nicht erst, ein akkurates ästhetisches Bild dieser Epoche zu zeichnen. Stattdessen gibt es eine wilde Mischung aus Retro Science Fiction, ein bisschen Steam- und ein ganz klein wenig Cyberpunk, viel Märchenatmosphäre, die auch dem Geist eines Tim Burton entsprungen sein könnte, und viel idealisierter Gründerzeitcharme, der komplett aus jeglicher Kategorie zu fallen scheint. Irgendwie so ein bisschen wie die Watchmen, die in Hogwarts unterrichtet werden, während das ganze von Lemony Snicket erzählt wird. Das erstaunliche: Die Suspension of Disbelief funktioniert hier ausgesprochen gut. So abgehoben Ästhetik, zeitliche und gesellschaftliche Verortung sind, so sehr wir mit losen Handlungsfäden konfrontiert werden, es fällt sehr leicht sich auf Charaktere und wesentliche Handlungsmotive einzulassen.

Das liegt vor allem an den hervorragend erzählten Protagonisten und Protagonistinnen, die sich in dieser bizarren Welt tummeln. Bei Superheldengruppen besteht ja immer ein wenig Gefahr, in Stereotypen zu verfallen: Der Starke, die Geheimnisvolle, der Zwielichtige etc… und auch Umbrella Academy gibt seinem Personal erst einmal klar definierte Fähigkeiten und Rollenmuster, in denen sie sich bewegen. Diese werden dann aber doch sehr schnell mitunter ziemlich radikal aufgebrochen, um echten Charakteren Platz zu machen, mit denen man mitfiebern und mitleiden kann. Ermöglicht wird dies durch einen großen Bogen, der sich um die gesamte Erzählung spannt: Den einer dysfunktionalen Familie, die sehr viel zusammen, aber auch sehr viel getrennt voneinander erlebt hat; die Geschichte einer traumatischen Kindheit in Kombination mit der Geschichte eben jener traumatisierten Erwachsener, die versuchen, sich in einer für sie aus den Fugen geratenen Welt zurechtzufinden. Hier können auch alle beteiligten Schauspieler und Schauspielerinnen glänzen: Ellen Page als verunsicherte Außenseiterin ohne Selbstbewusstsein, Robert Sheehan als drogenabhängiges, verstörtes Medium mit hedonistischer Schlagseite, Mary J. Blige als pragmatische Killerin… bis in die kleinste Nebenrolle leistet der Cast von Umbrella Academy einen hervorragenden Job und verleiht seinen Figuren eine Menge Glaubwürdigkeit und Tiefe, ohne Angst vor großem, menschlichen Drama.

Dank des Skurrilitätsfaktors wird Umbrella Academy aber nie zu sehr zur rein depressiven Abhandlung deprimierender Ereignisse. Dafür bricht die nächste bizarre Actionszene, das nächste absurde Szenario einfach zu schnell über das Geschehen herein. Das mag wie schon gesagt auf den ersten Blick erschlagend wirken, ist es auch oft genug, dafür ist es umso befriedigender, wenn sich viele lose Fäden am Ende zu einer dichten Gesamtgeschichte verwoben, die dennoch genug lose Enden übrig lässt, um Vorfreude auf eine zweite Staffel zu wecken. Ohnehin macht es die Serie seinem Publikum ziemlich leicht, sich voll und ganz in die – in diesem Fall mehr als notwendige – Suspension of disbelief fallen zu lassen, einfach weil sie den Charakteren eine Menge Ecken und Kanten, Ambivalenzen und vom strahlenden Helden bis zum Superbösewichten eine Menge Sympathie mit auf den Weg gibt. Abgerundet wird dieser erquickende Spagat durch eine erstklassige Inszenierung, eine Menge absurder Komik und verdammt glaubwürdige Story Arcs, die dem irrealen Geschehen einen überraschend realistischen Touch geben. Zusammenfassend lässt sich in diesem Fall also sagen: Alles richtig gemacht; und endlich mal wieder eine Superheldenserie, die sowohl ästhetisch als auch storytechnisch aus dem großen Melting Pot von late 2010er Superheldenserien heraussticht.

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