Spider-Man: A new universe (2018) – Mehr als der beste Animationsfilm aus dem Marvel-Kosmos…
Jeder Fan von Comicverfilmungen und Superheldenfilmen kennt die merkwürdige Geschichte rund um die Spider-Man-Filme: Ende der 90er Jahre – als Superheldenfilme Dank diverser Machwerke wie Batman und Robin einen alles andere als guten Ruf hatten – kaufte Sony eine Lizenz für die Verfilmung des berühmten Spinnensuperhelden von Marvel. Die Japaner hatten sogar die Chance, das gesamte MCU für das Kino zu lizenzieren, aber wie gesagt, damals gab niemand viel auf Superheldengeschichten für die große Leinwand und so verzichtete das Studio auf den Deal. Jedenfalls gelang es Sony mit der Spider-Man-Only-Lizenz praktisch im Alleingang, dem Genre neues Leben einzuhauchen. Sam Raimis Spider-Man-Trilogie (2002, 2004, 2007) war eine Sensation in der damaligen Zeit und neben den X-Men-Filmen DER Grundstein für den unfassbaren Erfolg der cineastischen Superhelden der letzten beiden Jahrzehnte. Alle Filmstudios leckten sich die Finger nach den Marvel- und DC-Stoffen. Und es kam, wie es kommen musste: 2009 kaufte Disney kurzerhand Marvel und läutete mit diversen Verfilmungen das berühmt berüchtigte Marvel Cinematic Universe ein, das letztes Jahr mit Avengers: Endgame (2019) einen vorläufigen Höhepunkt und ein vorläufiges Ende fand. Die Filmrechte für Spider-Man indes blieben im Hause Sony, und nachdem die Verfilmung eines vierten Teils von Raimis Spider-Man scheiterte, schlachtete Sony die Lizenz weiter ordentlich aus (allein schon, um die Rechte nicht zu verlieren) und produzierte kurzerhand mit The Amazing Spider-Man (2012) und dessen Fortsetzung ein Reboot der Franchise. Und damit war noch lange nicht Schluss, was Neuinterpretationen der freundlichen Spinne aus der Nachbarschaft betrifft. Nur fünf Jahre später gab es mit der Einführung Spider-Mans in das MCU schon das nächste Reboot. Und auch wenn Spider-Man: Homecoming (2017) ein solider Film war, stellte sich so langsam doch die Frage, wie viele Iterationen der Spinne man in kurzer Zeit erleben darf, beziehungsweise erleben muss, bevor einem der Stoff über ist. Offensichtlich einige, denn mit dem Animationsfilm Spider-Man: A New Universe (2018) kommt nur ein Jahr später schon die nächste. Diese ist aber in mehr als einer Hinsicht bemerkenswert: Denn zum ersten Mal erleben wir hier mit Miles Morales einen Spider-Man dessen Alter Ego nicht Peter Parker ist; darüber hinaus schleudert uns Into the Spider-Verse (so der Originaltitel) gleich mehrere Variationen des Spinnenmenschen in nur einem Film entgegen. Und das wiederum macht er überraschend gekonnt und mitreißend…
Miles Morales ist eigentlich ein typischer New Yorker Teenager. Auf Wunsch seines Vaters besucht er ein gehobenes Internat, obwohl er viel lieber weiter auf die High School in seiner Hood gehen würde. Anstatt zu lernen schlägt er sich auf den Straßen New Yorks rum und verbringt viel Zeit mit seinem Onkel Aaron, der als schwarzes Schaf der Familie gilt. Bei einem ihrer gemeinsamen Graffiti-Ausflüge wird Miles in einem verlassenen U-Bahnhof von einer radioaktiven Spinne gebissen und entwickelt kurz darauf Kräfte, die ganz ähnlich denen des originalen Spider-Mans sind. Miles kehrt an den Ort des Bisses zurück und muss dort erleben, wie sich eben jener Spider-Man in einem verzweifelten Kampf gegen den Verbrecherkönig Kingpin und dessen Teilchenbeschleuniger befindet. Miles versucht einzugreifen, hat seine Kräfte allerdings noch nicht genug im Griff, um sein Idol wirklich unterstützen zu können. Und dann geschieht das Unfassbare: Spider-Man verliert. Mehr noch, er wird von seinen größten Widersachern überwältigt und schließlich von Kingpin getötet. Zuvor kann er Miles aber noch einen USB-Stick zustecken, mit dem der Teilchenbeschleuniger, der ganz New York dem Erdboden gleichmachen könnte, entschärft werden kann. Miles hadert mit der ihm aufgelasteten Verantwortung und seiner Unfähigkeit, die Spinnenkräfte richtig einzusetzen, erhält jedoch plötzlich unerwartete Hilfe von niemand geringerem als… Spider-Man… und Spider-Woman… und Spider-Man Noir… und Peni Parker… und Spider-Ham… der Teilchenbeschleuniger hat nämlich ein Tor in andere Dimensionen geöffnet und gleich mehrere Spider-People in Miles Dimensionen geworfen. Gemeinsam beschließen sie, Kingpin aufzuhalten und die Ordnung zwischen den Welten wiederherzustellen.
Was für ein Setup! Wer zuvor – vollkommen zurecht – lamentiert hat, dass es im Kino der letzten zwanzig Jahre nun wirklich genug Spider-Man-Variationen gab, wird sich hier verdutzt die Augen reiben. Denn Spider-Man: Into the Spider-Verse zuckt angesichts der möglichen Perspektiven auf den berühmten Superheldenmythos lässig mit den Schultern und schleudert uns gleich eine Hand voll von ihnen entgegen. Spider-Man: A new universe ist ein Fest der Vielfältigkeit der freundlichen Spinne aus der Nachbarschaft. Vorlagen dazu gibt es Gott sei Dank genug, hat sich Marvel doch schon seit langem Diversität auf die Fahnen geschrieben und diese in ihren Comics heftig zelebriert. Nun darf ein einziger Film diese Vielfalt freudestrahlend ausleben, und das macht er wirklich ganz fantastisch. Mit schnellen Schnitten und hohem Erzähltempo werden die verschiedenen Spider-Leute in Miles‘ Universum geworfen. Wir erleben einen alt und dick und zynisch gewordenen Peter Parker, der so gar nicht zu dem Ideal des tapferen Helden passen will. Wir erleben eine von Verlust und Schmerz getriebene Gwen Stacy, die als Spider-Woman gegen das Böse kämpft und gleichzeitig versucht, den Verlust ihres Peter Parkers zu überwinden. Wir erleben eine unfassbar niedliche Anime-Interpretation von Peni Parker und ihrem herzlichen Spinnenroboter und wir dürfen sogar mit einem ruppigen Noir-Detektiv (stilecht in schwarzweiß) und einem Cartoon-Schwein im Spider-Kostüm mitfiebern. Spider-Man: A new Universe ist wie die Comicvorlage Spider-Verse (2014) eine großartige Hommage an die Vielfältigkeit und Diversität der Spider-Comicwelt und gleichzeitig ein augenzwinkernder Seitenhieb gegen die zahllosen filmischen Reboots der Franchise.
Das erstaunliche, so albern es erscheinen mag, ein Cartoon-Schwein mit Slapstick-Affinität neben eine nachdenkliche Spider-Gwen und einen düsteren Noir-Detektiv zu stellen, Into the Spider-Verse verkommt nie zur albernen Scharade. Der Film nimmt sowohl sein Sujet als auch sein Publikum äußerst ernst, verzichtet darauf, es – wie viel zu viele Marvel-Filme der letzten Jahre – zu sehr an die Hand zu nehmen und wirft es stattdessen voll rein in die irre Story um Dimensionsportale, diverse Spider-Charaktere und ein Aufgebot der grässlichsten Villains der Comicreihe. Dieser Spider-Man-Film ist definitiv eher ein Film für Comicgeeks, für Fans der freundlichen Spinne aus der Nachbarschaft, für Liebhaber der Vorlage und für jene, die mit dieser vertraut sind. Damit ist er ein angenehmes Kontrastprogramm zu den mitunter zu wattigen Marvel-Filmen der letzten Jahre, die sich manchmal ein wenig zu sehr bemüht haben, einem Blockbusterpublikum jenseits der Comicwelt zu gefallen. Dies spiegelt sich auch in seiner Ästhetik wider. Diese als experimentell zu bezeichnen, wäre vielleicht etwas weit gegriffen, aber es ist schon beeindruckend, wie Into the Spider-Verse frei von den Fesseln eines Realfilms alles auffährt, was es an Animations- und Comic-Möglichkeiten gibt. Der Film ist visuell teilweise einfach atemberaubend, eine bombastische Kombination aus Comic, Trickfilm, Videospiel-Ästhetik und Effektfeuerwerk. Wenn Comic-Kadragen abgelöst werden von wilden CGI-Verfolgungsjagden, von Trickfilminterludien und semirealistischer Action, kann einem schon schwindelig werden. In dieser schnellen Reizabfolge ist A new Universe in der Tat dann hin und wieder ein wenig zu hektisch, zu ausgefranst, fängt dies aber perfekt mit seiner alles umschließenden einheitlichen Bildsprache wieder auf, die sich wohl am ehesten als Hybrid aus klassischer 3D-Animation und Rotoskopie bezeichnen lässt. Visuell ist er jedenfalls zu jeder Zeit eine Augenweide und vielleicht sogar die beeindruckendste, abwechslungsreichste Comicverfilmung überhaupt.
Die Liebe zum Comic, die Liebe zur Vorlage, die Liebe zur Diversität sieht man Spider-Man: Into the Spider-Verse zu jeder Sekunde an. Er befreit den Spider-Man-Mythos von den engen Fesseln, die ihm die letzten filmischen Iterationen aufgezwungen haben, er bedient sich der an Abwechslung reichen Vorlage, um damit etwas neues, etwas einzigartiges zu erzählen. Und das gilt nicht nur für Spider-Man, sondern auch für das Marvel-Universum und das Genre der Comicverfilmungen generell. Kurz gefasst: Spider-Man: Into the Spider-Verse ist der beste Superheldenfilm des Jahres 2018, eine der besten Comicverfilmungen überhaupt und schlichtweg der beste Film über die heroische Spinne.