Ist „Miraculous – Geschichten von Ladybug und Cat Noir“ die beste animierte Kinderserie, die es aktuell da draußen gibt?

Ja, mein Gott, wie soll ich – wenn ich schon so eine steile These aufstelle – diesen Text anders betiteln als mit einer Suggestivfrage? Um es nicht allzu clickbaity zu machen, folgt die Antwort auf den Fuß: Ja, ja, ja, verdammt nochmal, und nochmal ja. Die französische, italienische, koreanische und japanische Koproduktion Miraculous – den meisten Eltern wahrscheinlich eher unter dem schlichten Titel Ladybug bekannt – ist großartige Kinder- und Familienunterhaltung; und darüber hinaus wahrscheinlich das beste, was man aktuell an kindgerechten TV-Animation geboten bekommt. Und das ist keineswegs selbstverständlich, wenn man einen Blick auf das Gesamtkonzept der Superheldinnenserie wirft. Denn ganz ernsthaft, für wen ist Miraculous gemacht? Für Kinder unter 5 Jahren, die harmlose Comic- und Superheldenunterhaltung brauchen? Für Kids kurz vor der Pubertät, die schon ein wenig in Highschool-Klischees reinschnuppern und gleichzeitig unbekümmerte Action erleben wollen? Für Teenager, die sich die kindliche Freude an albernen Kämpfen gut gegen böse bewahrt haben? Oder gar für Erwachsene, die nach einem expanded universe und vielen Cosplay-Möglichkeiten gieren? Irgendwie für alle und damit zugleich für keine Zielgruppe so richtig. Die Geschichten von Ladybug und Cat Noir sind all over the place, widersetzen sich ziemlich widerspenstig einer klaren Zielgruppenfokussierung und funktionieren gerade deshalb perfekt als Unterhaltung für die ganze – in diesem Fall wirklich ganze – Familie. Aber was macht ihr Zauber aus, warum gehen sie seit fünf Jahren so durch die Decke, und wie schaffen sie es Kita-Pyjamas ebenso zu verkaufen wie Actionfiguren wie überteuerte Sammlerstücke? Zeit dem ungewöhnlichen Mashup aus Fantasy/Action/Romantik/Comedy auf den Grund zu gehen.

Die Geschichte von Ladybug und ihrem Gefährten Cat Noir beginnt mit dem französischen Animationskünstler Thomas Astruc, der nach dem Konsum zahlloser Mangas und der Inspiration durch eine Freundin, eine Form von Superheldinnengeschichte im japanischen Stil auf den französischen Markt bringen wollte. Produzent Jeremy Zag kam mit der Idee in Berührung und überzeugte Astruc aus dem Konzept keinen Comic sondern eine Animationsserie zu machen. Gemeinsam schafften sie es zu Beginn der 2010er Jahre die französische Produktionsschmiede Univergroup Pictures für das Projekt zu begeistern. Außerdem stiegen noch das japanische Animationsstudio Toei (Sailor Moon, One Piece) und die Koreaner von SAMG Animation in das Projekt mit ein; und ja, sieht man sich das Endergebnis an, kann man nicht nur die kreativen Linien von Japan bis nach Europa nachzeichnen, man ist auch zutiefst dankbar für sie. Miraculous ist ein überkulturelles, globales Mashup, wie es eklektischer nicht sein könnte. Story und Dialoge tragen eine tiefe Verbundenheit zur europäischen Kultur. Gleichzeitig sprühen die Animationen den Geist des 90er Jahre Animes, in harmonischer Vermählung mit 2010er Animationstechnik und einem erstaunlich überzeugenden Workaround um die Budget-Herausforderung, die jede heutige CGI-Serie mit sich bringt.

Miraculous, les aventures de Ladybug et Chat Noir ist voller Stolz im Paris unserer Zeit angesiedelt und nutzt diesen Schauplatz nicht nur als bloße Staffage, sondern lässt ihn immer wieder lebendiger Teil des Geschehens sein. Im Mittelpunkt der Serie steht die jugendliche Marinette Dupain-Cheng, die sich mit Hilfe eines kleinen Wesens, dem so genannten Kwami Tiki in eine Superheldin mit Marienkäferkräften – Ladybug – verwandeln kann. Was für Spiderman die Kletterkünste sind und für Antman die Miniaturisierung ist, ist für eine Marienkäferheldin selbstverständlich das Glück. Mit ihrem Jojo kann Ladybug einen Glücksbringer herbeirufen, der ihr in einer brenzligen Situation hilfreiche (wenn auch nicht auf den ersten Blick hilfreiche) Objekte hervorzaubert. Daneben kann sie ihren Jojo als filigrane Waffe einsetzen, ist verflucht akrobatisch und läuft auch in aussichtsloser Lage Dank ihres Optimismus nie Gefahr aufzugeben. Wie die meisten anderen Superhelden hat Ladybug Gegner und Verbündete. Ihr Kompagnon ist Cat Noir, in Wirklichkeit Adrien Agreste, ein Mitschüler Marinettes, der sich mit Hilfe des Kwami Plagg in eine schwarze, elegante Katze verwandeln kann und in dieser Gestalt Ladybug bei ihren Abenteuern unterstützt. Der Superschurke des Miraculous-Universums ist Hawk Moth, eine Art Dunkler Lord, der in seinem Geheimversteck kleine schwarze Schmetterlinge – so genannte Akumas – züchtet, mit denen er allerlei Unheil anrichtet. Und genau an diesem Punkt beginnt sich Miraculous auch von anderen Superheldenserien (für Kinder) abzuheben.

Die Superschurken, mit denen sich Ladybug und Cat Noir in jeder neuen Episode konfrontiert sehen, kommen nämlich nicht aus dem Nichts. Es sind immer eine große Enttäuschung, eine große Traurigkeit, Wut oder andere negative Gefühle (mal gerechtfertigt, mal ungerechtfertigt), die am Beginn eines neuen Miraculous-Abenteuers stehen: Der Schuldirektor wurde öffentlich gedemütigt, ein Freund ist wütend, weil Adrien Hausarrest bekommt, Eine Mitschülerin Marinettes wurde von ihrer Freundin versetzt… all diese Ereignisse lösen in den entsprechenden Personen Emotionen aus, die sich Hawk Moth zu Nutze macht. Er schickt seine Akumas los, die die negativen Gefühle der betroffenen Person nutzen, um sie in eine Art hypnotisierten, temporären Superschurken zu verwandeln. Die Aufgabe von Ladybug und Cat Noir besteht folgerichtig immer darin, herauszufinden, wo sich der Akuma eingenistet hat (meistens in einem persönlichen Gegenstand des so eben erschaffenen Bösewichts). Mit Hilfe ihrer Glückskräfte kann Ladybug den Akuma gefangen nehmen und in einen harmlosen, weißen Schmetterling verwandeln – was von ihrem ikonischen Ruf „Gleich musst du nicht mehr böse sein!“ begleitet wird. Das mag auf den ersten Blick ziemlich konstruiert und schräg klingen, hat man aber ein paar Miraculous-Folgen gesehen, ist man voll drin in dieser verrückten Welt, in der jeder zum Superbösewicht werden kann.

Rein pädagogisch gesehen gewinnt Miraculous genau durch dieses Schema auch eine ungemeine Stärke. Sind wir in anderen Kinderserien oft mit klassischen Bösewichtern konfrontiert, die im schlimmsten Fall einfach nur böse sind oder deren erzählte Motivation im besten Fall unter einer Masse an fiesen Handlungen begraben wird, so kommt das Böse in Ladybugs Abenteuern nie aus dem Nichts. Die ganze Struktur jeder einzelnen 20minütigen Folge ist darauf ausgelegt, in erster Instanz Empathie für den Bösewicht des Tages aufzubringen. Folglich geht es auch nie einfach darum, diesen zur Strecke zu bringen, sondern die Handlung setzt bewusst voraus, dass seine Motivation identifiziert und nachvollzogen wird. Das ist eine erstaunlich offene Ambivalenz für eine Kinderserie, in der sich Superheldinnen und Helden im Paris des 21. Jahrhunderts durch die Straßen kämpfen. Sogar Hawk Moth selbst erhält nicht nur eine enge Bindung zu seinen Gegnern, sondern auch die Motivation für seine Akuma-Attacken wird im Laufe der Serie mehr und mehr ans Licht gezerrt. Dadurch verfällt Miraculous nie in ein plumpes Gut/Böse-Schema, es gibt immer nachvollziehbare Gründe, warum die Charaktere so handeln wie sie handeln und selbst die Sympathieträger Cat Noir / Adrien und Ladybug / Marinette sind nicht davor gefeit, sich hin und wieder unachtsam oder rücksichtslos zu verhalten.

Dementsprechend sind die einzelnen Episoden der Serie streng formalisiert. Den Prolog bildet immer ein Geschehen rund um die sozialen Kreise von Marinette und Adrien, meistens in ihrer Schule. Dabei konzentriert sich Miraculous auf die erwähnte Etablierung des aktuellen Antagonisten. Wir erleben – wenn auch in sehr komprimierter Form – klassische Familien- und Teendramen, gerne auch mit einem Hauch Romantik, gerne auch ein wenig in der Klischeekiste kramend. Nachdem offensichtlich etwas falsch gelaufen ist, schickt Hawk Moth in einer ebenfalls sehr formalisierten Szene einen seiner Akumas los, um das Opfer bzw. den Schurken der Episode zu verwandeln. Dieser stiftet fortan mal kleineres, meist größeres Unheil. Es folgt die Verwandlung von Marinette in Ladybug und die Verwandlung von Adrien in Cat Noir (die beide nicht wissen, wer sich jeweils hinter der Maske ihres Kompagnons befindet). Ebenfalls obligatorisch sind die im anschließenden Kampf Helden gegen Bösewichte benutzten Kräfte. Irgendwann kommt der Punkt, an dem Cat Noir seinen Kataklysmus einsetzen muss, eine mächtige Katzenklauenattacke, meist gefolgt von Ladybugs bereits erwähnter Glücksbringerfähigkeit. Der Schurke oder die Schurkin wird besiegt, Lady Bug befreit den Akuma und verwandelt ihn zurück in einen harmlosen Schmetterling. Mit einem „Miraculous Ladybug!“-Ruf wird der Frieden wiederhergestellt: Von dem Bösewicht zerstörte Dinge (gar nicht so selten zum Beispiel der Eiffelturm) werden wie von Geisterhand repariert und wir sehen ein letztes Mal Hawk Moth, wie er flucht, dass er Ladybug und Cat Noir beim nächsten Mal schlagen wird. Die Episoden enden dann immer mit einem Rekurs auf den sozialen Konflikt zu Beginn der Folge, der dann – oft auch mit Hilfe von Marinette – gelöst wird.

Diese Formalität der einzelnen Folgen macht es dem jungen wie alten Publikum deutlich leichter dem mitunter wahnwitzigen Geschehen des gesamten Kosmos zu folgen. Denn auch wenn jede einzelne Episode für sich stehend als unterhaltsamer Comictrip funktioniert, so betreibt Miraculous doch – in den ersten Staffeln noch zaghaft, später immer offensiver – grandioses Worldbuilding. Die Hintergründe von Hawk Moth werden peu à peu aufgedeckt, wo die Miraculous herkommen und warum sie so mächtig sind, wird immer wieder thematisiert. Hinzu kommen ein weiser Miraculous-Meister und natürlich auch weitere dieser kleinen Wesen, die schließlich dafür sorgen, dass Ladybug im Bedarfsfall eine ganze Armee an Superhelden rekrutieren kann, so ein bisschen eine Teenagerversion der Avengers, in der nicht nur Marinettes beste Freundin mitkämpfen darf, sondern auch andere würdige Personen, sogar Marinettes Antagonistin, die selbstverliebte und herrische Klassentyrannin Chloe. World Building findet auch im sozialen Kontext Marinettes außerhalb ihres Superheldendaseins statt, und dieses wird gar nicht so unelegant mit dem Superheldenkosmos verknüpft: Marinette ist in Adrien verliebt und wehrt so jeden Flirt von Cat Noir – der in Ladybug verliebt ist – ab, nichtsahnend, dass sich hinter der Maske ihres Verehrers der von ihr angebetete Adrien verbirgt. Adrien wiederum ist in Ladybug verliebt und hat in seiner Verliebtheit in die Unerreichbare keinen Blick für die Annäherungsversuche der verzückend tollpatschigen Marinette. Dadurch entsteht eine spannende Viereckskonstellation zwischen gerade mal zwei Personen, deren Superhelden Alter Ego ihrer romantischen Verbindung im Weg steht.

Auch wenn Miraculous mit gerade mal drei Staffeln – eine vierte ist fertiggestellt und soll Anfang 2021 veröffentlicht werden – noch eine relativ junge Serie ist, so besitzt sie doch jetzt schon sehr viel Potential ein großes Expanded Universe aufzubauen. Das liegt nicht nur an der raffinierten Erweiterung und seriellen Erzählung ihrer sozialen und magischen Welt, sondern mindestens ebenso an ihrer Ästhetik und Dramaturgie. Miraculous ist eine so verführerische Familienserie, weil sie von Beginn an in ihrer Inszenierung deutlich über die Anbindung an das Kernpublikum hinausgeht: Da wäre zum einen der „My little Pony“-Effekt: Zielgruppe waren in der ursprünglichen Konzeption ziemlich eindeutig sieben- bis zwölfjährige Mädchen: Highschool-Romantik mit Fokus auf eine manchmal etwas tollpatschige aber dennoch toughe Superheldin; niedliche magische Wesen und ein bunter Anime-Look. Check. Gleichzeitig sorgen diese Ingredienzen aber dafür, dass die Serie äußerst anschlussfähig an ein erwachsenes Publikum jenseits der dreißig ist. Das Look & Feel mit einer gewissen Sailormoon-Reminiszenz, ein wenig Studio Ghibli Charme und sogar ein paar popkulturellen Insidergags scheint mitunter wie gemacht für all die Bronys da draußen. Hinzu kommen die spannenden Handlungsbögen und die Gesamtgeschichte, mit epischen Staffelfinalen und einigen gut platzierten Cliffhangern. Und dann sind da noch die Jüngsten. Bei meinem Vierjährigen ist die Serie in der Kita der Renner und es dürfte kein Zufall sein, dass es Ladybug-Merchandise schon in den kleinsten Größen zu kaufen gibt. Die formalisierten, abgeschlossenen Zwanzigminuten-Happen eignen sich perfekt als Abwechslung zu zu vielen zu stupiden und re­pe­ti­tiven Kinderserien im Feuerwehrmann Sam Stil, auch wenn hier durchaus erwähnt gehört, dass manche – gerade spätere – Episoden relativ düstere Bilder und Themen aufweisen, und einige wenige Episoden gar eine FSK-Freigabe erst ab 6 Jahren erhalten haben. Dies wird aber durch die pädagogische Stärke und den bunten Animestil erfolgreich genug abgefedert, um auch Kinder im Kindergartenalter nicht zu überfordern.

Et voilà, haben wir es mit einer der sympathischsten und vollständigsten Familienserien zu tun, die es derzeit im TV oder Web zu sehen gibt. Von 3 bis 99 Jahren geeignet, um es klischeehaft auszudrücken; ungemein charmant, sympathisch, liebenswert, aber eben auch spannend, actionreich und in manchen Momenten gar gruselig. Ein fantastischer Mashup aus amerikanischer Disney-Vergnügtheit, japanischer Anime-Überdrehtheit und pädagogisch bedachter Fantasygeschichte mit europäischem Aushängeschild. Es ist gar nicht so einfach, Serien zu finden, denen man den Jüngsten zumuten kann, ohne die Älteren zu frustrieren und selbst gelangweilt daneben zu sitzen. Miraculous ist nicht nur fantastische Unterhaltung sondern ein wahrer Schatz für die TV-Planung größerer Familien. Aber selbst wer keine Kinder hat und sich einfach mal wieder von unschuldiger Animeunterhaltung mitreißen lassen will, sollte Ladybug und Cat Noir unbedingt eine Chance geben.

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