Spiritual Porn Mindfucks – Gedanken zu Gaspar Noes "Enter the Void"

Natürlich kommt man, wenn man von Gaspa Noe spricht, nicht an Irreversible vorbei… dieses zermürbende Monster von einem Film, das seine Protagonisten und Zuschauer auf eine grauenhafte Odyssee durch einen rückwärts erzählten, quälend naturalistischen Revenge-Thriller schickt, an dessen Beginn eine schwindelerregende Kamerafahrt durch die aufgepeitsche Pariser Nacht steht, dessen Zentrum von einer der unerträglichsten Szenen der Filmgeschichte eingenommen wird und dessen vermeintlich harmonisches Ende, die grausame Determiniertheit der gesamten Geschehnisse brutal auf den Punkt bringt. Gaspar Noe ist ein cineastischer Extremist, ein sadistischer Filmemacher, der die Grenzen des Erträglichen auslotet, um sie eiskalt zu überschreiten. Vollkommen zurecht hat es sein Meisterwerk Irreversible zu den extremsten Filmen der 00er Jahre geschafft. Und dann hatten wir ganze vier Jahre Verschnaufspause, trügerische Ruhe, bevor die Ikone der New French Extremity mit Enter the Void 2010 zu einem erneuten Angriff auf unsere Sehgewohnheiten bläst.

Wo soll man anfangen? Die filmische Handlung – die sich beim genaueren Hinsehen übrigens als ziemlich dünn entpuppt – hier zusammenzufassen, würde dem dramaturgischen Schliff von Enter the Void nicht gerecht werden. Gehen wir also lieber chronologisch vor: Am Anfang steht erst einmal der blanke hyperaktive Creditrausch. Innerhalb einer Minute peitscht Gaspar Noe sämtliche Beteiligte an dem Projekt über den Bildschirm, lässt seine Schrift in asthmatischen Neonlicht begleitet von aggressiven Beats flimmern, verschnauft kurz, nur um dann gleich den Rest hinterherzupeitschen. Dass Enter the Void für Epileptiker komplett ungeeignet ist, dürfte an dieser Stelle schon klar sein. Aber dieses wahnwitzige Intro ist ohnehin nicht mehr als ein kleiner Vorgeschmack dessen, was dann folgen wird. Wir begleiten sind Oscar, ein lethargischer Drogendealer und Junkie in Tokio. Die Kamera taucht voll ab in die Subjektive; wir sehen alles durch seine Augen, keine Schnitte – bis auf das minutenlange ätherische Farben Wabern nachdem Oscar sich wir uns einen DMT-Trip gegönnt haben. Blinzeln, wackelige Ego-Perspektivenkamera, ein kurzer Blick in den Spiegel, ein endlos scheinender Weg zu der Bar „The Void“, um Drogen zu verticken… Dass Enter the Void nichts für flaue Mägen ist, sollte spätestens ab diesem Zeitpunkt klar sein. Aber dieser 20minütige Egotrip ist ohnehin nur ein Vorgeschmack dessen, was hinter dem titelgebenden Nichts auf uns wartet.

Oscar stirbt… Wir sterben mit Oscar. In einer äußerst brutalen, erschreckend abrupten Tötungsszene reißt uns Gaspar Noe aus dem Ego-Alptraum, um gleich darauf zu beweisen, was mit seiner Filmtechnik der umherirrenden Kameraführung alles möglich ist. Enter the Void zieht uns in seine eigene Leere, um uns auf einen wahnsinnigen Trip zwischen jenseit und Diesseits, zwischen Lebensretrospektive und transzendentaler Irrfahrt, zwischen Horrortrip und Reinkarnationsgier zu entführen. Denn erst mit dem Tod des Protagonisten beginnt der eigentliche Film, und der ist ein verflucht abgefuckter Trip, das Schlingern einer Seele im leeren Raum, das Irren eines unerlösten Geistes, ebenso wie die Zuschauer zur totalen Passivität verdammt: erinnernd, suchend, träumend, wachend, transzendentierend, körperlos, hilflos… Der visuelle Rausch hinter diesem ungewöhnlichen Konzept ist kaum in Worte zu fassen. Er muss erlebt werden.

Die Kamera irrt umher, sucht sich Fixpunkte, versucht sich festzuhalten, geht verloren und irrt weiter: Durch Gegenwart, Vergangenheit, mögliche Zukunft, Realitäten und Irrealitäten. Gaspar Noe macht das Medium selbst zum Akteur: Wir erleben Oscar, sind Oscar, der seinen eigenen Todestrip wie einen Film erlebt. Wie schon Irreversible ist Enter the Void ein Manifest des Passiven, Ohnmächtigen, Deterministischen: Gaspar Noe schont uns nicht mit sadistischer Fesselung und visueller Entfesselung… und doch ist selbst das, alles nur ein Vorgeschmack dessen, was den Zuschauer mit zunehmender Spielzeit erwartet. Enter the Void ist- wenn auch nicht so brutal und gnadenlos kalt wie Irreversible – mindestens genau so extrem wie sein direkter Vorgänger. Was geschieht hier? Noe entwirft die Antithese zur klassischen Heldenreise. So subjektiv unser Blick auf den Helden ist, so wenig erscheint dieser selbst als Held. Gefangen in seiner eigenen Ohnmacht, zwischen den Ebenen, Welten und Bewusstseinszuständen pendelnd ist er – und sind wir mit ihm – dazu verdammt tatenlos dem Bilderrausch zu folgen. Diese Destruktion des klassischen Erzählkinos ist sowohl visuell als auch dramaturgisch omnipräsent.

Das ist erst einmal – und daran gibt es nichts zu rütteln – höchst berauschend und beeindruckend. Trotz seiner endlos langen Laufzeit von 2 1/2 Stunden, die mit dem Protagonisten und mit den Zuschauern nach Erlösung giert, ist Enter the Void ein permanent gefang nehmender Film geworden. Das liegt nicht zuletzt an der außergewöhnlichen Vielzahl seiner visuellen Konzepte: Kamerafahrten durch Häuserschluchten, die zu Miniaturen und wieder lebendigen (oder toten) Großstädten werden, minutenlange abstrakte Computeranimationen zwischen Drogenrausch und Alptraum, das Gleiten in Körper im physischen, physischsten und unphysischsten Sinne, Zeitraffer, Zeitlupen, Neonreklamen… Die Bildästhetik des gesamten Streifens ist ein eklektisches Manifest ohne Gleichen… und besitzt trotzdem eine konsequent inkonsequent, originäre, genuine und durch und durch einzigartige Bildsprache.

Das gleiche gilt für die Dramaturgie, die ebenfalls höchst heterogen arbeitet und trotzdem immer wieder auf sich selbst referiert: Zahllose Motive zwischen Freud, Buddha, Crowley und Hofmann werden angedeutet, und in Schleifen stets neu konfiguriert: Abhängigkeit, Ohnmacht, Obsession, Inzest, Gewalt und Sexualität… die entstehenden Motivschleifen spiegeln sich, referieren aufeinander, reißen sich selbst entzwei um im nächsten Moment effekthascherisch wieder angepackt zu werden. Hier liegt jedoch die Crux begraben. So individuell die Bildsprache von Enter the Void auch ist, so diffus und eindimensional bleibt es auf der inhaltlichen Ebene. Anstatt sich seinen Themen anzunehmen, kreist der Film lieber schnell weiter auf seiner ästhetischen Ebene. Anstatt genauer zu schauen, belässt er es bei grellen Effekten, heißen Blitzgewittern und – zugegeben recht effektiven – Schocks. Mitunter scheint er so das Ambiente eines LSDSPEED-Imagefilms zu haben, dem die Oberfläche mehr zählt als alles andere. Genau genommen ist Enter the Void Eskapismus in Reinkultur. Schreiend, zähnefletschend, aggressiv und progressiv, aber dennoch Style over Substance. Von seiner ästhetischen Camouflage befreit offenbart der transzendentale Trip Gaspar Noes zahllose Schwächen und Lücken auf der Inhaltsebene. Die dekonstruktivistische Schleifenbildung relativiert sich selbst zu Tode, bis weder Haltung noch Sinn erkennbar sind. Alles muss fließen, muss transzendieren, muss alles sein, muss alles sein, und wird mehr und mehr zur leeren, prallen Seifenblase. Universalistischer Relativismus bzw. relativer Universalismus und dadurch die höchste Annäherung zu einer leeren Menge, die – nachdem sich der Zuschauer satt beeindruck oder empört hat – ihre eigene Deutungslosigkeit offenbart.

So verliert sich Enter the Void in seinem eigenen Relativismus. Traum, Realität, Irrealität… all das zerfließt, ohne einen Halt zu bilden. Ähnlich wie die Kamera schwindelt, schwindelt auch der gesamte Film. Eben noch befand man sich in einem komplexen Sturzflug durch die dunkle Nacht Tokios, und schon im nächsten Moment sitzt man gefesselt in einem paralysierten Körper, oder eben auch nicht. Was hier wie geschehen soll, was hier wie geschieht, erstickt in der Willkür des transzendentalen Trips. So folgt auf den vermeintlichen Tod zweier zentraler Protagonisten der Fick der selben. So wird die Wiedergeburt eingeleitet und abgebrochen – leider viel zu kurz versinnbildlicht in einem der stärksten Metaphern des Films, dem abgetriebenen Fötus. Aber wo Gaspar Noe an diesen Stellen innehalten und die Leere hinter der pantheistischen Spukgeschichte auskosten könnte, lässt er seine Zuschauer weiter stürzen und weiter stürzen. Es ist nicht einmal das Gefühl des Endlosen, wodurch sich der Film schließlich selbst ein Bein stellt. Es ist das Gefühl des Endsuchenden und schließlich vermeintlich Findenden. Denn irgendwann landet eben auch Enter the Void im tiefsten spirituellen Kosmos. Hinter dem Schmutz und den Abgründen, hinter den zerfleischenden Beats lauern die Geister von Hesse, Klabunt und Coelho… und ehe er sich versieht ist Enter the Void ebenfalls ein Teil des Ostasiatischen Erlösungsschicks… voll auf Ersatzreligion gebürstet.

Aber bis dahin ist es ein langer Weg, und das muss Enter the Void auch in jeder Einstellung deutlich machen. Ohnehin ist dieser der effektlastigste Film, von Noes an Effekten nicht armen Œuvre. Wenn eine Achterbahnfahrt Erinnerungen an traumatische Unfälle wachruft, wenn in der Gegenwart Bilder der Vergangenheit und Zukunft aufblitzen, schlägt Enter the Void immer wieder erbarmungslos zu. In seinen besten Momenten ist das tatsächlich an die Nieren gehende New French Extremity Kunst, in den weniger gelungenen Momenten wirkt es platt und billig. Dass eine POVagina-Perspektive eher für unfreiwilliges Gelächter sorgt und damit die proklamierte Unantastbarkeit des Werkes zu Nichte macht, hätte den Machern schon vorher klar sein müssen. In seinen unfreiwillig komischen Momenten gibt sich Enter the Void erschreckend schwach und hilflos gegenüber seinem eigenen  avantgardistischen, arty, freaky Anspruch. An für sich wäre dies verkraftbar, im Kontext des Films als Waffe, beraubt er sich aber so seiner eigenen Intention. Was weh tun soll, wird zum unfreiwilligen Klamauk. Das Karnevaleske Moment erlaubt den Zuschauern viel zu oft ein befreiendes Auflachen…

…aber wir wollen uns hier nicht falsch verstehen. Enter the Void ist konsequentes Extremkino. Am Ende ist der Zuschauer Matsch, so oder so. Wenn in einer der finalen Einstellungen pornographische Szenen von flackerndem Licht begleitet werden, das immer tiefer in die Genitalien seiner Akteure überstrahlt, ist der ultimative Mindfuckmoment (im wörtlichen Sinne) geboren. Gaspar Noe krallt sich die New French Extremity Momente von sich und seinen Arthouse-Kollegen und transzendentalisiert sie. Enter the Void wird somit zum ultimativen Spiritual Porn: Die Seelenwanderung wird zum Sex, der Sex wird transzendentalisiert, wird zur Seelenwanderung. Ficken und erlöst werden! scheint uns Gaspar Noe entgegenschreien zu wollen… aber warum er uns die Erlösung in einem fast schon peinlichen, pathetischen hollywoodreifen Ende so unmotiviert vor die Füße knallt, bleibt sein Geheimnis. Enter the Void wird so final zur Masturbationsvorlage für postmoderne Sinnsuchende, zum cineastischen Trip für Buddhismus-Hippster… eben zum Porno für die zwischen Postmoderne, Postpostmoderne Pendelnden und nach transzendentalem Obdach Schreienden. Ein spannendes, faszinierendes, gewaltiges Filmexperiment, ein monumentaler leerer Rausch, und eben auch ein an seinen eigenen Ansprüchen scheiternder Hirnfick, der sich selbst so wenig ernst nimmt, dass man ihn auch als Zuschauer nicht ernst nehmen kann. Ansehen ist Pflicht. Mitreißen lassen selbstverständlich. Allerdings bleibt am Ende wie bei jedem Porno nicht viel mehr als leerer Eskapismus im Gedächtnis.

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