Raw (2016) – Die böse Twilight-Zwillingsschwester
Ja, okay… so ein bisschen irreführend und clickbaity ist der Titel dieser Rezension ja schon. Passt damit aber auch hervorragend zum besprochenen Film. Raw (2016) machte nämlich keine halben Sachen, als es um seine Vermarktung ging. Da war von einem der schockierendsten Horrorfilme der letzten Jahre die Rede, da wurde von Menschen erzählt, die reihenweise das Kino verließen, weil sie mit dem Gezeigten nicht klarkamen, und es wurde sogar von Zuschauern berichtet, die während des Toronto Filmfestivals 2016 medizinisch behandelt werden mussten, da ihnen die expliziten Szenen zu heftig waren. Mit diesem Vorwissen in der Hand kommt man gar nicht drumherum, Julia Ducournaus Kinodebüt mit einer gewissen Portion Skepsis zu begegnen, zumal die Zeit der New French Extremity mittlerweile fast zehn Jahre zurückliegt und eine ihrer größten Ikonen – Gaspar Noé – in seinen letzten Filmen durchaus eine Abwendung vom Extremen um jeden Preis und eine Zuwendung zu metaphysischen und panoramischen Themen erkennen ließ. In der Tat lässt sich Raw in vielen Bereichen der New French Extremity oder Nouvelle Vague des französischen Horrors zuordnen. Zugleich ist er aber alles andere als eine extreme, kontroverse Gewaltorgie, wie es die derbsten Filme dieser Zunft waren. Das liegt nicht zuletzt daran, dass er eine Menge aktuellerer Einflüsse mit an Bord hat, namentlich Mechanismen aus dem – Achtung, Buzzword! – derzeit so viel zitierten Post Horror, ganz konkret dem Slow Burning Horror amerikanischer Bauart. Und da das im Titel dieser Rezension zitierte Märchen auch schon über zehn Jahre alt ist, darf beruhigend hinzugefügt werden: Mit den Teenie/Fantasy/Romanzen der späten 2000er und frühen 2010er Jahre hat Raw ebenfalls wenig gemein, auch wenn ihm die Verquickung von Coming-of-Age und Fantastischem sichtlich am Herzen liegt.
Justine (Garance Marillier) war ihr Leben lang Vegetarierin und hat auch nicht vor, dies zu Beginn ihres Studiums zu ändern. Neu auf dem Campus, zum ersten Mal weit weg von zu Hause und in ihrer eigenen Studentenwohnung wird sie von ihrer älteren Schwester Alexia (Ella Rumpf), die ebenfalls Medizin studiert, in Empfang genommen. Diese führt sie nicht nur in das Leben an der Universität ein, sondern bringt sie auch zu den wildesten Partys und bizarrsten Initiationsveranstaltungen. Als Frischling muss Justine dort manches demütigendes Ritual über sich ergehen lassen, unter anderem wird sie gegen ihren Willen dazu gezwungen, rohes Fleisch zu essen. Ihr Körper jedoch reagiert auf die ungewohnte Mahlzeit anders als erwartet: Kein Ekel, kein Unwohlsein, kein Schock. Ganz im Gegenteil. Justine kommt auf den Geschmack, entwickelt absurd große carnivore Bedürfnisse, und schon bald wird ihr klar, dass weder Schwein noch Rind ihre liebste Fleischsorte ist, sondern Mensch. Und mit diesem Bedürfnis steht sie nicht alleine dar.
Was geschieht mit einem jungen Menschen, wenn er sich zum ersten Mal in seinem Leben von allzu engen elterlichen Fesseln befreit sieht? Und welche unterdrückten Kräfte und Gefühle können dabei zu Tage treten? Mit dieser Fragestellung steht Raw nicht allein dar. Ungefähr um die selbe Zeit hat sich auch der Skandinavier Thelma (2017) diesem Thema angenommen und natürlich ist die klassische Referenz Carrie (1976) auch nicht vergessen, insbesondere weil der Film 2013 ein – wenn auch ziemlich halbgares – Remake erhielt. Darüber hinaus kommt Raw in einer Zeit ins Kino, in der eine große Welle von Coming-of-Age Fantasyflicks gerade lange genug zurück liegt, dass man leicht schmunzelnd – je nachdem wie alt man ist vielleicht sogar nostalgisch – auf sie zurückblicken kann und gleichzeitig froh ist, dass der Trend vorbei zu sein scheint. Wie viel 2000er Teenage Angst steckt also in diesem französisch belgischen Genrebastard? Gott sei Dank relativ wenig. Auch wenn die Kombination fantastischer (Horror-)Stoff plus Coming-of-age Drama nichts Neues ist, gelingt Raw etwas, was vielen seiner Genregenossinnen abgeht: Nicht nur die Protagonistinnen sind hier ein kleines bisschen älter als üblicherweise, auch der ganze Stoff ist deutlich erwachsener, auch über den puren Gore- und Schockfaktor hinaus.
Raw ist kein Film für ein jugendliches Publikum, und auch kein Film für ein Publikum, das gerade seiner Jugend entwachsen ist. Julia Ducournaus radikales Antimärchen versteht sich ganz bewusst als reifer Film, der es nicht nötig hat, sich thementechnisch an die Generation anzubiedern, die er in den Blick nimmt. Schmerzhaft langsam wird die Handlung erzählt; und dann, wenn sie schließlich Fahrt aufnimmt, schmerzhaft schmerzhaft. In der Tat hält sich Raw nicht mit so manchen drastischen und auch grafisch expliziten Szenen zurück. Das beginnt nicht erst beim übernatürlichen Horror, sondern schon bei den Demütigungen der Erstsemester, geht weiter über so manche angespannte soziale Situation und endet – natürlich – beim brutalen, kannibalistischen Horror, der Schock und Ekel gezielt einsetzt, um eine durch und durch unheilvolle Atmosphäre zu kreieren. Diese ist hier aber keineswegs Selbstzweck: Raw versteht sich primär als dunkle, pervertierte Allegorie auf das Erwachsenwerden, als Spiegelbild einer Generation, die viel zu gut behütet wurde und schließlich mit der Welt konfrontiert Dinge entdecken und erfahren muss, die sie nicht einmal für denkbar hielt. Und das wohlgemerkt nicht nur in der Welt, sondern auch in sich selbst. Justine ist die Personifizierung einer unmündig gehaltenen, im Kokon großgezogenen Jugend, die weder das Böse in der Welt noch das Böse an sich selbst akzeptieren kann. Der sich entwickelnde Kannibaleninstinkt ist dabei sowohl ein Symbol für erwachende Sexualität als auch ganz allgemein die Gier, sich von allen elterlichen und gesellschaftlichen Erwartungen maximal abzugrenzen.
Anstatt seiner Protagonistin mit Empathie zu begegnen, hält sich Raw auf Distanz. Wie bereits gesagt, anbiedern will er sich nicht, auch nicht gemein machen, er will nicht einmal verstehen. Raw ist ein erschreckend wertfreier, wertneutraler Film, ein eiskalter Beobachter schauriger Ereignisse, und selbst beim Anziehen der Daumenschrauben bleibt er brutal kalt und unnahbar. So wie seine Protagonistinnen sich in einem medizinischen Umfeld bewegen, versteht sich auch Raw als forschender Mediziner, weniger aber als einer, der nach der Heilung für eine kaputte Welt sucht, als viel mehr jemand, der es mit wissenschaftlicher Neugierde genießt, seiner Patientin beim Leiden und Sterben zuzusehen. Raw ist auch deshalb so kalt, weil sein äußerer, distanzierter Blick keine Rettung verspricht. Er wohnt einer persönlichen Apokalypse bei, ohne diese aufhalten zu können, geschweige denn aufhalten zu wollen. Tatsächlich würde der Film auch ohne den – zweifellos vorhandenen und in einigen Momenten in der Tat an die Grenze gehenden – Ekelfaktor genug Shock Value besitzen, einfach weil er so verdammt voyeuristisch und zugleich emotional distanziert ist. Er spiegelt Ängste des Selbst, ohne je mit diesem Selbst zu verschmelzen, ohne dieses Selbst je anzunehmen und ist dadurch umso erschreckender. Gerade diese Distanz ist es dann auch, die ihn von Filmen der New French Extremity unterscheidet. So brutal Filme wie Irreversible (2002), Inside (2007) oder Martyrs (2008) auch waren, sie hatten immer einen emotionalen Kern, an dem sich das Publikum festklammern konnte. Keineswegs optimistisch, aber in ihrer depressiven Stimmung zumindest empathisch, um Verständnis bemüht. Raw ist weder Seelenverwandter noch Therapeut, sondern experimentierender Mediziner mit Notizblock und dem seelenlosen Blick, den man aus Filmen wie Neon Demon (2016) kennt.
Raw ist ein symbolischer Coming-of-age Fantasytrip, aber kein braves Teenager Drama, das ein bisschen Teenage Angst mit ein bisschen Grusel spiegelt. Raw ist ein krasser Film, aber nicht das promotede Gorefest, das dich an den Rand des Nervenzusammenbruchs bringt. Raw ist ein extremer Horrorfilm, aber keine laute, emotionale Achterbahnfahrt wie die Filme der französischen Horror Nouvelle Vague. Raw ist ein symbolischer, vager, langsamer und schmerzhafter Trip, aber keine 1:1 Post-Horror-Allegorie. Raw ist kein einfacher Film, aber ein besonderer Film, ein Werk, das sein Publikum nicht so einfach loslässt und lange im Gedächtnis bleibt. Wer sich darauf einlässt, sollte wissen, worauf er sich einlässt, dann wird er es nicht bereuen.
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