Die besten Filme 2015: Das bizarre Sittengemälde High-Rise von Ben Wheatley

Das Konzept der Wohnmaschine reicht fast 100 Jahre zurück. Bereits in den 1920er Jahren arbeitete der französische Architekt und Künstler Le Corbusier an den Plänen für einen Gebäudetypus, in dem vielen Menschen ein komfortables Wohnen ermöglicht werden sollte. Die 50er Jahre des 20. Jahrhunderts waren schließlich die Zeit, in der das Konzept erprobt und massenhaft umgesetzt wurde. So genannte Unités d’Habitation sind Wohngebäude, in denen nicht nur viele Menschen auf engstem Raum zusammenwohnen, sie sollen als große Einheiten zwischen Wohnen, Arbeiten und Freizeit Kleinstädte in Häuserform sein: Neben Wohnungen befinden sich in ihnen Supermärkte, Cafés, Schwimmbäder… der Gestaltung sind praktisch keine Grenzen gesetzt. Das in Deutschland berühmteste nach diesem Konzept entstandene Gebäude dürfte das Corbusierhaus im Westen Berlins sein, das 1957 als bundesrepublikanische Antwort auf die DDR-Plattenbauten errichtet wurde und bis zum heutigen Tag bewohnt ist. Gut zwanzig Jahre nach dem größten Hype um Le Corbusiers Gebäude, verarbeitete der experimentelle Science Fiction Autor James Graham Ballard diese utopischen Wohnvorstellungen in dem dystopischen Roman Der Block (1975). Und wenn wir noch einmal 40 Jahre draufpacken, sind wir im 21. Jahrhundert angekommen und bei der Verfilmung von Ballards Roman High-Rise (2015) durch Ben Wheatley (Kill List, A Field in England). Es ist unbestreitbar, dass Le Corbusier, der 1965 gestorben ist, Zeit seines Lebens viel Kritik einstecken musste. Und seine Architektur zwischen freier Gestaltung, Brutalismus und holistischem Größenwahn gilt schon lange als überholt. Also bleibt die Frage ob die Verfilmung eines 1975 geschriebenen Buches über ein 50er Jahre Bauphänomen uns überhaupt etwas neues über unsere Gesellschaft und unser Zusammenleben erzählen kann. Wie zeitgemäß kann eine solche Geschichte überhaupt sein? Und wenn sie es nicht ist, besitzt sie einen davon unabhängigen Wert?

Um eine dieser Fragen gleich zu beantworten: Zeitgemäßheit war nie Ben Wheatleys Sache. Viel mehr ist er ein Freund des Historischen, sowohl was Narration als auch deren Darstellung betrifft. Konsequenterweise versucht er gar nicht erst die Ästhetik von Gallards Geschichte mit dem Blick des 21. Jahrhunderts neu zu denken oder gar die Handlung in unsere Zeit zu transferieren. Viel mehr stürzt er sich in die Zeit, in der das Buch geschrieben wurde, die mittleren 70er Jahre. Dort begegnen wir dem frisch geschiedenen, jungen und wohlhabenden Arzt Robert Laing (Tom Hiddleston), der in das vor kurzem fertiggestellte Londoner Hochhaus des Architekten Anthony Royal (Jeremy Irons) zieht. Dessen Vision war es, ein Gebäude zu entwerfen, in dem die Bewohner alles besitzen, was sie zum Leben brauchen: Wohnraum, Arbeitsflächen, Kaufmöglichkeiten, Freizeitangebote. Royals Ideal ist es, ein Verlassen des Wohnhauses oder Wohnblocks (weitere ähnliche Gebäude werden in der direkten Umgebung gebaut) überflüssig zu machen. Was er nicht bedacht hat, ist die Hierarchie, die sich bei einem solchen engen Zusammenleben entwickelt. Diese hat sich nicht nur innerhalb kürzester Zeit etabliert sondern wird auch von Tag zu Tag strenger: Während das Prekariat und die Familien in den unteren Etagen leben, so wie sie in der gesellschaftlichen Rangordnung unten stehen, führen die reichen Singles in den obersten Etagen ein dekadentes Leben, zwischen opulenten Kostümpartys, Drogenexzessen und sexueller Revolution.

High-Rise zelebriert diese postmodernen Klassengegensätze, die schließlich in einen grotesken Klassenkampf münden, mit Wonne, aber er denkt gar nicht daran, sich auf eine Seite zu schlagen. Sein Patentrezept gegen mögliche Eindimensionalität ist, dass er allem und jedem mit Abscheu begegnet. Egal ob die dekadente, elitäre und selbstgefällige Oberschicht oder die larmoyante, vulgäre und kompromissunfähige Unterschicht. Jeder in diesem Komplex von einem Gebäude und einem Film hat Dreck am Stecken. Das betrifft auch und vor allem den Protagonisten, der zwischen Opportunismus, Feigheit und einer biederen Ignoranz gegenüber seinen Mitmenschen erzählt wird. Dieser Protagonist Robert Laing ist Zentrum des Films, wie er ein vermeintliches Zentrum der Gesellschaft symbolisiert. Er steht irgendwo dazwischen, freundet sich mit dem Familienvater, Dokumentarfilmer und Möchtegernrevoluzzer Richard (Luke Evans bravourös als wilder Anarchist) ebenso an wie mit der Hedonistin Charlotte (Sienna Miller). Er besucht die dekadenten Parties der Oberschicht, bewundert den Garten Royals am höchsten Punkt des Gebäudes, flirtet aber auch mit Richards schwangerer Frau Helen (Elisabeth Moss). Als das ganze Gebäude jedoch buchstäblich Risse bekommt und sich der Konflikt zwischen den verschiedenen Gesellschaftsschichten weiter zuspitzt, gerät Robert Laing als Freund von allen direkt zwischen die Fronten, und das erhoffte friedvolle Leben verwandelt sich in einen grotesken Bürgerkrieg.

Und von da an kann es nur noch abwärts gehen. Und gerade weil der Protagonist ebenso wie der Film so misanthropisch, so angewidert von allen Menschen ist, macht sein Irren durch die sich zuspitzende Katastrophe unheimlich viel Spaß. High-Rise macht keine halben Sachen, wenn es darum geht die Abwärtsspirale der Eskalation zu erzählen. So wandelt er sich ziemlich schnell vom distanzierten Retro Science Fiction Stück zur grotesken Parabel und zum brutalen Endzeitflick. In seinem Kern ist High-Rise eine kapitalismuskritische Dystopie, ein kalter Blick auf die Dysfunktionalität gesellschaftlicher Ordnungen, in seiner Ausführung jedoch ist er eine fast schon unmenschliche Bizarrerie, in der die Ordnung der Gesellschaft ebenso verloren geht wie die Ordnung der Handlung. Wir sehen wie das exzellente, kalte und sterile 70er Jahre Setting in sich zusammenstürzt, wir sehen den schicken Raum zerbersten und Platz machen für ein einziges groteskes Fegefeuer. Menschen fallen übereinander her, zerreißen und zerfleischen sich, Barrikaden werden errichtet und in Brand gesetzt, Blut wird verströmt und dazwischen wird gesoffen, gefixt und gevögelt. Es scheint müßig, darüber zu diskutieren, ob wir es nun mit einer politischen oder psychoanalytischen Fabel zu tun haben, weil spätestens in der zweiten Hälfte alles in einem einzigen Rausch eingerissen wird.

High-Rise ist an dieser Stelle weder subtil noch doppeldeutig. Viel mehr windet er sich in seinem eigenen Schlachtfeld um jede Sinnfrage herum, feiert das menschliche Elend, den menschlichen Kampf, die Entmenschlichung des Menschen. Ihm an dieser Stelle Zynismus vorzuwerfen, wäre untertrieben. High-Rise ist ein dreckiges und gehässiges „Ich habe es doch gleich gesagt!“, ein misanthropischer Besserwisser von einem Film, der auf seine Protagonisten und Protagonistinnen ebenso spuckt wie auf den Versuch, das Unerklärliche zu erklären. Dass er trotz aller Abstoßung unterhaltsam ist, liegt vor allem an der exzellenten Inszenierung Ben Wheatleys. Dessen Art, Stil und Eleganz zu etablieren und dann vor unseren Augen zu zertrümmern, ist schon einzigartig. Wheatley greift sich den 70’s Chic, weidet sich an Sterilität und Noblesse und nimmt sich dann richtig viel Zeit, diese durch den Fleischwolf zu drehen. Wir sehen nicht nur die Welt des Hochhauses zusammenstürzen, sondern die gesamte Ästhetik des Films. Am Schluss verlieren wir ebenso wie die Akteure ebenso wie die Handlung den Überblick. Wir irren durch ein Gruselkabinett, durch einen absurden Kriegsschauplatz, auf dem jede Menschlichkeit verloren gegangen ist.

Wer das nicht abkann, der ist bei Wheatleys High-Rise an der falschen Stelle. Dieser Film bietet weder Lösung noch Katharsis, weder Hoffnungsschimmer noch Aufklärung. Am Ende stehen Tod und komplette Verwüstung. Ein Hund wird gegessen und wir hören Margaret Thatcher über den Kommunismus lästern. High-Rise ist ein zynischer, aus der Zeit gefallener Trip. Und um damit die zentrale Anfangsfrage zu beantworten: Gerade in seinem Zynismus, in seiner transparenten Wertlosigkeit besitzt er einen kruden universellen Wert. Sicherlich keinen schönen Wert, aber doch einen, der ihn zu einem sehenswerten wie verwerflichen filmischen Monstrum werden lässt.

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