Die besten Filme 2017: Das baskische Historiendrama „Handia“ (Giant)

Größe ist relativ. In der Wirklichkeit wie im Film. Ein Historienepos kann pompös, kraftmeierisch und atemberaubend daherkommen, in seinem Inneren bei genauerer Betrachtung jedoch eine gähnende Leere offenbaren, die es in sich zusammenfallen lässt. Zugleich kann ein historischer Stoff als leises, poetisches Drama ohne Subtext, ohne tiefergehende Ebene erzählt werden, hinter seinem zurückhaltenden Ästhetizismus jedoch wahre parabolische Größe verstecken. Das spanische Handia (2017) – international als „Giant“ vermarktet – fällt in die zweite Kategorie. Er ist subtil, verlässt sich ganz auf seine ruhigen Bilder, erzählt seine Geschichte ohne große inhaltliche Triebfeder, mag dabei sogar etwas konservativ daherkommen, offenbart aber hinter seiner unscheinbaren Fassade wahre poetische Größe, die ganz und gar zeitlos ist. Das Historiendrama von Aitor Arregi und Jon Garaño atmet den Geist des europäischen Autorenkinos längst vergessener Zeiten, ist in seiner Suche nach dem perfekten Bild, jenseits jeglicher ästhetischer oder narrativer Subversion, fast schon radikal anachronistisch, findet aber bei all seinem inhaltlichen Straucheln genau in den richtigen Momenten genau den richtigen Ton, um zur zeitlosen, aus der Zeit gefallenen Fabel zu werden.

Das Drama spielt zur Zeit des ersten Carlistenkrieges Mitte des 19. Jahrhunderts. Martín (Joseba Usabiaga) wurde trotz seines Widerstrebens und Protestes von seinem Vater ausgewählt, in der baskischen Armee zu kämpfen, während sein jüngerer Bruder Joaquín (Eneko Sagardoy) zu Hause auf dem Hof der Familie bleiben durfte. Nachdem er im Kampf verwundet wurde, kehrt Martín auf das Gut der Familie zurück und stellt fest, dass sein Bruder sich während seiner Abwesenheit in einen Riesen verwandelt hat. Joaquín leidet unter Gigantismus, kann – wie er selbst sagt – seinen Knochen beim Wachstum zuhören, und wächst dabei weiter und weiter. Martín, der wegen seiner Kriegsverletzung keiner Landarbeit mehr nachgehen kann, ahnt schnell, welches Potential in dem monströsen Äußeren seines Bruders schlummert. Und so zieht er mit ihm über das Land, um mit dem „Größten Mann der Welt“ als Zirkusattraktion Geld zu verdienen.

Handia ist – und daran lässt der Film von Beginn an keinen Zweifel – die Geschichte zweier Brüder. Zweier sehr unterschiedlicher Brüder: So wie Joaquín in seiner Physiognomie der Große von den beiden ist, ist Martín der Große, was den Erfahrungshorizont betrifft. Während er gezwungen war in den Krieg zu ziehen, wurde sein Bruder von seinem Vater scheinbar bevorzugt, zu Hause und in Sicherheit gehalten. Durch dieses Erlebnis, dem Verlust des Urvertrauens kommt Martín als traumatisierter und gebrochener Mann wieder. Aber er kommt auch als Mann wieder, der die Welt gesehen und zu gewissen Teilen auch verstanden hat. Er hat den Kampf ums Überleben am eigenen Leib erfahren, hat gelernt, was es heißt sich zu behaupten und in allen Umständen den Vorteil für sich selbst zu finden. Joaquín auf der anderen Seite, der sein Dorf nie verlassen hat und mit allen erdenklichen Mitteln von der Familie beschützt und vor der Außenwelt versteckt wurde, wirkt wie ein tumber, naiver Riese, ein Kind im Körper eines Giganten, das keine Ahnung hat welche menschlichen Abgründe außerhalb des behüteten Dorflebens warten. So übernimmt Martín für ihn gleich mehrere Rollen: Er ist Bruder und Vater. Lehrmeister und Horizonterweiterer. Aber auch Ausbeuter und Herr.

Die Geschichte dieses Duos erzählt Giant in akribischen, detaillversessenen Bildern, versucht dabei jedoch nie den Horizont Richtung Epos zu öffnen. Für einen Historienfilm sind die visuellen Kompositionen Handias äußerst eng gefasst, erlauben es immer nur kleine Ausschnitte des Geschehens zu erfassen, ziehen sich oft streng auf Martíns Perspektive zurück und lassen keinen Zweifel daran, dass ihnen das Introspektive wichtiger ist als ein gesamtgesellschaftlicher Rahmen. Folgerichtig wurden dem Film in der internationalen Rezeption Konservatismus, Geschichstvergessenheit und eine apolitische Ader vorgeworfen. In der Tat handelt es sich dabei um Kritikpunkte, die nicht von der Hand zu weisen sind. Handia hat einen Hang zur Romantik, insbesondere wenn es um die Darstellung des einfachen Dorflebens als Zufluchtsort vor den Verführungen und Gefahren der großen weiten Welt geht. Handia hat einen Hang zum apolitischen Konservatismus, wenn historische, gesellschaftliche und politische Umstände vom Blick fast vollends ausgeklammert werden. Handia wählt allerdings sehr bewusst keine soziologische sondern eine psychologische Perspektive, um sein Sujet zu erzählen. Das hat die genannten Nach- aber auch viele Vorteile zur Folge.

Von einem gesamtgesellschaftlichen Blick entlastet wagt sich Handia so ins Innere seiner Protagonisten und macht im Laufe seiner Handlung eine faszinierende Entwicklung durch. So wie Martín peu à peu lernt, seinen Bruder besser zu verstehen, so wird auch sein Blick geöffnet. Die Introspektion wird aufgebrochen durch Empathie und Zuneigung. Wir erleben mit dem Protagonisten zusammen, wie aus dem unbeholfenen – zunächst nur durch seine Größe charakterisierten – Joaquín ein Mensch mit Gefühlen und Bedürfnissen wird. Vor allem gegen Mitte des Films wird der zuvor sehr konkrete Blick der Kamera aufgebrochen durch traumwandlerische, träumerische und sogar surreale Szenen. Handia scheint hier einige Inspiration von der europäischen Regieikone Ingmar Bergman gewonnen zu haben: Auch das Regieduo Jose Mari Goenaga und Jon Garano liebt es psychologische Introspektionen mit ausgedehnten Naturaufnahmen zu kreuzen, wie auch in Bergmans Filmen wird hier das Innere oft im Äußeren widergespiegelt, die Welt zum Schauplatz des Geistes, die Leinwand zu einer Phänomenologie der Wahrnehmung. Handia gelingt es dieses Erbe in großartigen Bildern einzufangen und dabei – auch dank der politischen Enthaltsamkeit – mehr universelle Fabel und humanistische Parabel als historisches Sittengemälde zu sein. Sein ästhetischer und inhaltlicher Konservatismus mag ihm einiges an Stärke und Strahlkraft rauben, er gewinnt zugleich aber ein sehr tiefes Gespür für die einfachen zwischenmenschlichen Momente und die kleinen Fragen des Lebens.

Handia ist ein faszinierendes impressionistisches Gemälde. Kein Film für die großen Spiegelungen, kein Film für bedeutende Epiphanien; aber ein leises, poetisches Porträt seiner Menschen, eine Reise mit und in seine Protagonisten und ein zutiefst humanistisches Drama über Brüderlichkeit und Mitmenschlichkeit.

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