Die besten Filme 2016: Moonlight von Barry Jenkins

Es ist der Strand Miamis, der alles in dem Triptychon Moonlight (2016) zusammenhält. Drei Schlüsselszenen sind es, die an diesem Strand spielen und dem Leben Chirons, dem Protagonisten dieses ebenso fantastischen wie zersplitterten Films eine klare Kontur geben. Am Strand lernt „Little“ Chiron (Alex R. Hibbert) von seinem Ersatzvater, dem Drogenhändler Juan (Mahershala Ali) als Zehnjähriger das Schwimmen. Am Strand macht der sechszehnjährige Chiron (Ashton Sanders) seine ersten sexuellen Erfahrungen. Und ein Strand ist es, den wir auch in der letzten Szene noch einmal sehen, noch einmal im Blick des erwachsenen Chiron (Trevante Rhodes), durch die Augen des Kindes, hinaus ins Meer und schließlich zu uns Zuschauern. Der Strand ist in Moonlight immer Sehnsuchtsfläche und Hoffnungsschimmer. Die Offenheit des Meeres, der kühle Wind und das Mondlicht, in dem – wie Juan Chiron erklärt – Schwarze aussehen, als hätten sie blaue Haut. Es sind Momente purer Schönheit, purer Idylle, die dieser Strand immer wieder repräsentiert; Momente des Innehaltens und Einatmens. Momente, in denen sich die Sorgen und Probleme des Lebens kurzzeitig auflösen und bloßer Kontemplation Platz machen. Und Sorgen und Probleme hat Chiron, der Protagonist des Films, mehr als genug.

In drei Kapiteln, die für sich wie abgeschlossene Kurzfilme daherkommen, zeichnet Moonlight das junge Leben Chirons nach. Als Kind einer drogenabhängigen Mutter, von anderen Kindern wegen seiner weichen, sensiblen Art verspottet, muss er sich im Miami der 80er Jahre auf der Straße durchschlagen. Zur Seite steht ihm der Drogenhändler Juan, der ihm hilft sich in der Welt zurechtzufinden. Warum ihn die anderen Kinder „Faggot“ (Schwuchtel) nennen würden, fragt Chiron eines Tages seinen Ziehvater, und dieser antwortet so, wie man es von einem Dealer und Pimp nicht erwarten würde: Indem er Chiron bestärkt, er selbst zu sein, sein eigenes Wesen zu akzeptieren, gerade seine sensible und weiche Seite. Dass dies alles andere als einfach ist, muss der jugendliche Chiron in seiner Highschool gut sieben Jahre später erleben, wo er Opfer von Mobbing und Gewalt ist. Aber es gibt auch einen Lichtblick, ausgerechnet im Draufgänger Kevin (Jharrel Jerome), von dem sich Chiron emotional wie physisch angezogen fühlt. Und auch hier geschieht wieder, was bei dieser Rollenkonstellation nicht zu erwarten war. Chiron erlebt zum ersten Mal Liebe und Körperlichkeit. Jedoch wird das kurzlebige Glück von sozialem Druck und Gewalt auf eine harte Probe gestellt. Es geschehen Ereignisse, die Chiron bis ins Erwachsenenalter verfolgen werden und aus denen er als scheinbar komplett veränderter Mensch hervorgeht.

Dass Moonlight ein überwältigender, zutiefst berührender und wunderschöner Film ist, dürfte sich mittlerweile – nicht nur aber auch den Oscars sei Dank – herumgesprochen haben. Was das genau dieser Moonlight für ein Film ist, ist allerdings schwerer zu fassen. Das beginnt bereits bei der thematischen Vielfalt. Moonlight ist ein Film über Selbsterkenntnis und das Einstehen für sich selbst. Er ist ein Film über Homosexualität, sexuelles Erwachen und Erwachsen, ein Film über Liebe und Zuneigung. Moonlight ist auch ein Film über die erdrückende Macht gesellschaftlicher Begebenheiten. Ein Film über Milieus, die einen Menschen gefangennehmen und zu einer bestimmten Entwicklung verdammen können. Moonlight ist auch ein Film über Selbstermächtigung, und zugleich ein Film über das Sich-Fallen-Lassen. Darüber, wie beides zusammenwirken kann und muss. Diese thematische Vielfalt des Films stellt zugleich seine thematische Einheit dar. Denn auch wenn die drei Akte Moonlights aus dem Leben einer Person erzählen, sind sie inhaltlich so radikal voneinander abgetrennt, dass jedes für sich selbst als herausragender Kurzfilm dastehen könnte.

Das gemeinsame Band sind hier zum ersten die angerissenen Themen, zum zweiten der Hauptcharakter, verkörpert von drei fantastischen Hauptdarstellern. Alex R. Hibbert, Ashton Sanders und Trevante Rhodes ist jeder für sich bereits ein kleines Leinwandwunder. Wie Barry Jenkins sie zu einer Person verschmelzen lässt, verdient aber besondere Beachtung. Gecastet wurde hier nicht nach optischer Ähnlichkeit, sondern nach einer gemeinsamen Ausstrahlung, einem gemeinsamen Blick. Und Wahnsinn, wie gut das funktioniert! Little, Chiron und Black (wie der Protagonist in den einzelnen Kapiteln jeweils genannt wird), wirken wie ein Mensch: Trotz so unterschiedlicher Physiognomie, der selbe Blick, die selbe Verletzlichkeit, die selbe Sehnsucht. Umso beeindruckender, wenn man bedenkt, dass die drei sich bei den Dreharbeiten nicht einmal zu Gesicht bekamen. Auch die anderen Darstellerinnen leisten hier eine herausragende Arbeit, allen voran die drei Kevins (Jaden Piner, Jharrel Jerome und André Holland), die als sehnsüchtiger Bezugspunkt und Antagonisten den gesamten Film über eine Präsenz haben, die über die einer bloßen Nebenrolle hinausgeht. Barry Jenkins erzählt mit seinen starken Charakteren drei Kurzgeschichten und stellt zugleich eine äußerst kraftvolle Verbindung zwischen diesen Geschichten her. So wie der scheue Blick der drei Chiron-Iterationen diese verbindet, verbindet die humanistische Erzählhaltung Jenkins‘ die einzelnen Episoden. Im Zentrum steht immer der einzelne Mensch, als Summe seiner Erfahrungen, seiner Widersprüche, seiner inneren und äußeren Kämpfe und seiner Historie. Moonlight ist eine Fabel der menschlichen, persönlichen Entwicklung an und für sich, der Ich-Schärfung und des Ichverlustes, das dramatische Triptychon einer jungen Seele von Kindheit über Jugend bis zum Erwachsenenalter.

Und dann ist da noch diese Kameraarbeit von James Laxton. Gott, was für eine großartige Kameraarbeit! Er verwandelt die Coming-of-age-Geschichte in ein faszinierendes Gedicht, zwischen Impressionismus, Realismus und Expressionismus. Es kann gar nicht stark genug betont werden, wie die Bilder hier nicht einfach nur die Geschichte erzählen, sondern selbst zur Geschichte werden. Die bereits erwähnten Momente am Strand werden im Auge der Kamera zu kleinen Gottesdiensten, zu Momenten einer poetischen Transzendenz, in denen sich der harte Realismus vorheriger Blicke auflöst. In diesen Momenten wird Chiron durch ein hochästhetisches Schwimmritual getauft, erlebt eine Art sexuelle Eucharistie und gegen Ende des Films eine Art liturgische Entlassung, die er dem Publikum weitergibt. Zwischen diesen intensiven, angespannten, nahezu sakralen Momenten steht einer sanfter, poetischer Realismus, mit dem die Kamera das harte Leben eines introvertierten, homosexuellen Jungen und dessen Kampf um Bestehen in der Gesellschaft ohne Scheuklappen nachzeichnet. Das wirklich beeindruckende an diesen Bildern ist, dass es ihnen gelingt sowohl naturalistisch als auch magisch zu sein. Moonlight plustert sich visuell nie auf, schwenkt auch zu Belanglosem, Kleinem, Unwichtigem, findet aber genau in diesem flüchtigen Blick immer wieder die Poesie des Alltags. James Laxtons Kameraarbeit ist wie Barry Jenkins‘ Inszenierungstechnik hier nicht weniger als wegweisend. Moonlight verbindet Zeichnerisches, Fotografisches und Poetisches zu einer Erzählung, wie sie in der Form noch nicht im Kino zu sehen war, und das Ganze mit einer unnachahmlichen Gelassenheit und ohne jede aggressive Avantgarde-Attitüde.

Reden wir also noch kurz darüber, dass es sich um einen „schwarzen“ Film handelt. Ja, in Moonlight gibt es weder weiße Protagonisten noch Nebenfiguren. Und ja, die Hautfarbe und das Milieu des Films, spielen eine wichtige Rolle in seiner Narration. Moonlight setzt sich unter der Oberfläche akzentuiert mit schwarzem Selbstbewusstsein und auch jüngster schwarzer Geschichte auseinander. Über die 80er und 90er Jahre bis in unsere Zeit verfolgt er das Selbstverständnis von Menschen, die an den Rand der Gesellschaft gedrängt sind und sich an diesem ihre eigene Gesellschaft mit ihren eigenen Regeln aufbauen. Das spannende an Moonlights Blick ist in erster Linie, dass er dieses An den Rand Drängen kaum thematisiert, sondern einfach seine Folgen erzählt. Mehr noch, er schildert, wie sich gerade in der Subkultur kulturelle Dominanz und Marginalisierung entwickeln können, wie sich an der Peripherie wiederum ein eigenes Zentrum und ein eigener Rand aufbauen. Chiron wird zum An den Rand Gedrängten in einem Milieu, das an den Rand gedrängt ist. Seine Sensibilität und seine sexuelle Orientierung findet keinen Platz in einer Gesellschaft, die von Maskulinismus und Machoismus geprägt ist. Die Entwicklung des erwachsenen Chiron zum gefürchteten und respektierten „Black“ zeichnet auch die Tragödie eines Menschen, der schließlich die Rolle einnimmt, die in seinem Milieu akzeptiert wird. Seine nachdenkliche, emotionale Ader unterdrückend wird er zur Randfigur des bürgerlichen Amerikas und zugleich zur Ikone eines marginalisierten Milieus. Der Weg zum Gangster und Pimp besitzt eine ganz eigene Tragik, weil sie Antwort eines Marginalisierten in einer Gruppe von Marginalisierten darstellt. Umso stärker die Botschaft Juans und des Films: Sei wie du bist. Du kannst es nie allen recht machen, aber du kannst immer du selbst sein.

Es ist der Strand, der dies alles zusammenhält. In seiner letzten Szene – nach der, ebenfalls liturgischen Beichte – finden wir Chiron am Strand wieder. Und dies ist auch der Moment, in dem er wieder sich selbst findet. Nach dem Leiden, nach dem Suchen und nach der Aufgabe vor dem Druck der Gesellschaft kann er wieder nur er selbst sein. Es ist ein intimer Moment, ein Blick für sich, ein Blick hinaus, aber auch ein Blick zu uns. In seinen letzten Momenten versprüht Moonlight, so wie in allen Szenen, in denen er sich seiner poetischen Transzendenz hingibt, in erster Linie Hoffnung. Keine falsche, die harte Realität negierende, Hoffnung. Sondern ehrliche, ernst gemeinte Hoffnung, das jeder – seien die Umstände noch so hart – zu sich selbst finden kann. Moonlight ist ein fantastisches Coming of Age Drama, eine realistische Milieustudie und eine poetische Fabel über Selbsterkenntnis, Selbstflucht und Selbstfindung. Jede gottverdammte Auszeichnung wert, die er erhalten hat und nicht nur einer der besten Filme des Jahres sondern auch einer der besten Filme der Dekade. Barry Jenkins hat mit Moonlight einen Film geschaffen, der noch lange im Gedächtnis bleiben wird und der, wenn es noch so etwas wie Gerechtigkeit in der Filmwelt gibt, schon bald zu den Klassikern des noch jungen 21. Jahrhunderts gezählt werden wird.

 

 

Diesen Film haben wir auch in unserem Podcast besprochen.

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