Die besten Filme 2019: Marriage Story von Noah Baumbach

Was macht man, wenn man Mitte der 2000er Jahre einen der besten Scheidungsfilme aller Zeiten gedreht hat? Zumindest Noah Baumbachs scheint die Antwort klar zu sein: Man wartet 15 Jahre, bis man Netflix‘ Budget und Unterstützung im Rücken hat, und dreht dann einen Film, der noch besser ist. Ja, das ist natürlich ein spekulativer Einstieg, scheint aber an der Stelle erst einmal die plausibelste Erklärung für dieses Meisterwerk von einem Film zu sein. Nach einigen Ausflügen ins Tragikomische, unter anderem in der Zusammenarbeit mit Greta Gerwig bei Frances Ha (2012) hat sich Noah Baumbach bei seinem neuesten Film Marriage Story (2019) voll und ganz dem Drama verschrieben. Ein irreführender Titel übrigens, denn wie bereits gesagt ist hier nicht viel von der Ehe zu sehen. Viel mehr müsste der Film konsequent Divorce Story heißen, steht doch die Scheidung zweier Menschen und das damit verbundene Drama ganz im Mittelpunkt der Geschichte. Noah Baumbach wäre aber nicht einer der besten Indie-Regisseure der beiden vergangenen Dekaden, wenn er nicht genau an diesem Punkt ansetzen und alles geben würde, gegen den Strich und jenseits von melodramatischen Klischees zu erzählen. Denn neben all dem Ballast einer Scheidung, der hier höchst realistisch durchexerziert wird, ist Marriage Story doch auf faszinierende Art und Weise auch eine Liebesgeschichte… und zwar womöglich eine der schönsten und traurigsten, die dieses Jahrzehnt vorzuweisen hat.

Dass es auch um Liebe geht, selbst wenn es verflossene Liebe ist, erfahren wir gleich zu Beginn aus dem Mund der zentralen Figuren. Wir hören, was die beiden an dem jeweils anderen schätzen, begleitet von wundervollen Momentaufnahmen ihrer Ehe. Die Realität schlägt kurz darauf dafür umso härter zu. Charlie (Adam Driver) und Nicole (Scarlett Johansson) haben sich nämlich nicht aus freien Stücken entschieden, über die guten Seiten ihres Expartners zu sprechen. Die Listen der Vorzüge des jeweils anderen sind Teil eines Mediationsgespräches, das dabei helfen soll, ihre Scheidung ohne böses Blut über die Bühne zu bringen. Die beiden auf ihrer schweigsamen U-Bahnfahrt nach der Sitzung und den soeben gehörten Liebesbekundungen zu begleiten, gehört bereits mit zum Herzzereißendsten, was in den letzten Jahren an tragischen Liebesfilmmomenten zu sehen war. Es ist ebenso erstaunlich wie beängstigend, dass Noah Baumbach quasi nur mit den Finger schnipsen muss um sein Publikum zu Tränen zu rühren. Er ist einfach so unfassbar gut darin, genau an den richtigen Stellen Emotionen zu wecken. Es scheint ihm so leicht zu fallen, mit einfachen – gerne auch sprachlosen – Szenen perfekt auf die Tränendrüse zu drücken, ohne dass man sich als Zuschauer von ihm überrumpelt oder gar manipuliert fühlt.

Nachdem uns Baumbach einmal tief emotional in die Magengrube geschlagen hat, zieht er sich auch schon wieder vom Affekt zurück. Marriage Story begleitet Charlie und Nicole auf ihrem getrennten wie gemeinsamen Scheidungsweg, und schafft es dabei durch äußerst ausgewogene Perspektivwechsel die Geschichte stets im Gleichgewicht zu halten. Sympathien können und dürfen wechseln, Ambiguitäten und Ambivalenzen dürfen stehen bleiben: Wir verstehen Nicole, die sich in der Ehe mit Charlie irgendwann wie in einem Gefängnis gefühlt hat und endlich etwas für sich selbst machen will. Wir verstehen Charlie, der verzweifelt versucht, das, was die beiden noch gemeinsam haben, zusammenzuhalten. Schnell stellt sich heraus, dass das Zentrum der gegeneinander ringenden Wünsche ihr gemeinsamer Sohn, der achtjährige Henry (Azhy Robertson), ist. Charlie hofft, dass Nicole nach ihrer Arbeit an einem Pilotfilm in Los Angeles wieder zurück nach New York kommt. Nicole, die New York nie wirklich mochte, will mit Henry in ihrer Heimat Los Angeles bleiben. Und dieser Grundkonflikt wird schließlich auch dazu führen, dass beide Fehler machen, dass beide es nicht mehr schaffen, die Position des anderen zu verstehen. Natürlich kommen schließlich auch Anwälte (ganz und gar großartig Laura Dern, Ray Liotta und Alan Alda) ins Spiel. Und das Unglück nimmt schlussendlich doch seinen Lauf.

Es ist der narrativen und dramaturgischen Virtuosität Noah Baumbachs zu verdanken, dass dieses Unglück nie übers Knie gebrochen wird. Nach den emotional enorm intensiven Anfangsminuten, lässt sich Marriage Story erst einmal viel Zeit, bis er wieder zum emotionalen Hammer greift. Baumbach lässt sich Zeit die Krise, in die Charlie und Nicole geraten sind, zu erzählen. Inszeniert wird diese angespannte wie lange vor sich hinplätschernde Phase in epischen Weitwinkelaufnahmen, die mal bis zum Schmerz in der distanzierten Totalen verharren, sich mal in musternden Nahen ganz und gar der Befindlichkeit der Protagonisten annehmen. Der Film ist dabei in vielen Momenten nicht nur ein langsam erzählter sondern vor allem auch ein subtil erzählter Film. Wir dürfen dem Theaterregisseur und der Schauspielerin dabei zusehen, wie sie Entscheidungen treffen: Manchmal falsche Entscheidungen, manchmal richtige Entscheidungen, manchmal halbrichtige Entscheidungen, immer jedoch – und das ist das Großartige an dieser Geschichte – immer plausible Entscheidungen. Dass sich Nicole doch für eine starke Anwältin entscheidet, scheint einem Impuls zu folgen, dass Charlie sich lange gegen das Prinzip „Angriff als Verteidigung“ sträubt ist ebenso nachvollziehbar wie die Tatsache, dass Nicole und ihre Anwältin irgendwann andere (härtere) Saiten aufziehen, einfach weil sie durch Charlies Phlegma dazu gezwungen sind. Und dass dieser die Situation eskalieren lässt, ist dann auch irgendwie dumm aber nachvollziehbar. Diese schrittweise Eskalation geschieht ohne Hektik und Eile. Sie ist vor allem deshalb so tragisch, weil Nicole und Charlie selbst in der wachsenden Eskalation versuchen zu retten, was zu retten ist.

Dies äußert sich in grandiosen angespannten Begegnungen zwischen den beiden. So wie der Film langsam und subtil Richtung Tragödie fährt, so unfassbar stark wird dieser Weg von den beiden Hauptdarstellern verkörpert. Scarlett Johansson und Adam Driver liefern die womöglich beste Leistung ihrer, jeweils an Höhepunkten nicht armen, Karriere ab. Innere Spannung ist das Zauberwort. Wenn sie sich begegnen, miteinander kommunizieren, versuchen den richtigen Weg getrennt wie gemeinsam zu finden, liegt stets ein Knistern in der Luft. Ein möglicher Ausbruch aller Konflikte ist spürbar, und dennoch reißen sie sich zusammen. Das ist nicht nur wahnsinnig realistisch, sondern auch unglaublich intensiv und mitreißend. Durch ihr nuanciertes, subtiles Spiel entsteht eine enorm spannende und ambivalente Atmosphäre. Tatsächlich hat sich Noah Baumbach gegen die zahllosen melodramatischen Momente und für ein Ausharren in der tragischen Anspannung entschieden. Er platziert nur einen großen Streit im Zentrum des Films. In diesem bricht dafür alles aus, was sich vorher angestaut hat. So subtil und zurückhaltend die Momente zwischen Nicole und Charlie fast während des gesamten Films sind, so unfassbar intensiv ist dieser Ausbruch. Hier legen Johansson und Driver alles in ihre Rollen, was sie aus ihrem Innersten herausziehen können: Wut, Schmerz, Hass, Trauer, Verzweiflung… diese einzige dafür aber ungewöhnlich lange Streitszene gehört zu den intensivsten Momenten des Dramenjahrzehnts, und jeder, der sie erlebt hat, wird sie nicht so schnell vergessen.

Aber auch darüber hinaus bringt Marriage Story das Baumbach’sche Prinzip – Emotionale Ausbrüche wohldosiert, dafür aber umso intensiver einzusetzen – zur Perfektion. Rührselig ist der Film (fast) nie, wenn er aber emotional wird, dann schlägt er so richtig zu. In ausgewählten Momenten ist Marriage Story radikales Affektkino, bewusst gestaltet um Tränen zu provozieren. Und bei Gott, wie effektiv er dabei ist! Hervorgehoben seien an dieser Stelle nur zwei große Momente, ein unvergleichlich trauriges Aufbäumen von Nicoles und Charlies Sohn Henry, sowie das fast beiläufig eingefädelte Ende, in dem Charlie noch einmal mit den einstigen Gefühlen von Nicole für ihn konfrontiert wird. In diesen Momenten bricht die aufgebaute Fassade der so beherrscht scheinenden Hauptfiguren zusammen und zurück bleibt eine reale und intensive Tragik, wie es sie im Kino nur selten zu erleben gibt. Der Film will sein Publikum zum Weinen bringen und es gelingt ihm mit einem Handstreich, gerade weil um diese hyperemotionalen Momente herum eine so lakonische, realistische Atmosphäre aufgebaut ist.

Und doch verwahrt er sich bis zum Schluss dagegen, übertriebenes Melodram zu sein. Zwischendurch darf dann sogar einmal gelacht werden… oder zumindest geschmunzelt. Der Affekt wird ebenfalls nie über das Denken gestellt. Die wohl platzierten Perspektivwechsel sorgen für eine angenehme Ambivalenz, auch wenn sich im Mittelteil ähnlich wie bei Der Tintenfisch und der Wal ein leichtes Sympathieungleichgewicht zugunsten der Protagonistin einschleicht. Wobei dies auch umgehend damit relativiert werden muss, dass viele Zuschauer dennoch ihre Sympathie primär auf der Protagonistenseite verorten, nur ein weiterer Beweis dafür, wie gekonnt Marriage Story mit Ambiguitäten und Ambivalenzen umgeht, und dem Zuschauer immer genug Raum gibt, sich zu positionieren. Diese Doppelbödigkeit, diese ausgewogene Perspektivierung ist schon große Klasse, gerade für ein Scheidungs- oder Trennungsdrama. Und dann sei doch noch ganz kurz gestreift, wie grandios der Film seine langsame, gehobene Inszenierung in manchen Momenten aufbricht: Die mehr als skurrile fast schon bizarre Abendgestaltung Charlies für eine Gutachterin des Jugendamts, zwei Grandiose Over-the-Top-Szenen der beiden Anwälte Jay Marotta und Nora Fanshaw, sowie zwei in Erinnerung bleibende dicht aufeinander folgende Musicalnummern (!), die auf dem ersten Blick in dem realistischen Setting deplatziert wirken mögen, aber noch einmal das ganze Gewicht des Konflikts auf die Bühne werfen.

Marriage Story ist ohne Zweifel einer der besten Filme, wenn nicht sogar der beste Film des Jahres 2019, und darüber hinaus eines der besten Scheidungsdramen überhaupt: Noah Baumbachs dramaturgische Kunst, das grandiose Schauspiel aller Beteiligten, der Realismus, die gekonnten Brüche in der Inszenierung, und last but not least die pointiert eingesetzte unfassbar wirkungsvolle Emotionalität. Endlich mal wieder ein Film, bei dem man viel und ausgiebig weinen kann. Endlich wieder ein Film, der sein Publikum zugleich nachdenklich wie beeindruckt, bewegt wie begeistert, traurig wie glücklich zurück lässt.

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