Die besten Filme der 90er Jahre: Hat Forrest Gump da was verloren?

Um erst einmal Klarheit zu schaffen: Natürlich ist Forrest Gump ein absoluter Klassiker des 90er Jahre Kinos… und noch mehr: Robert Zemeckis Tragikomödie von 1994 ist zu einem festen Bestandteil der Filmgeschichte geworden. Allein ein Blick in die Mem- und Zitatenkiste genügt, um sich das deutlich vor Augen zu führen. Sei es die Eröffnungsszene mit der schwebenden Feder, seien es die unzähligen Sätze von „Das Leben ist wie eine Schachtel Pralinen, man weiß nie was man kriegt.“ über „Dumm ist der, der dummes tut.“ bis hin zu „Mein Name ist Forrest Gump. Mich nennen alle Forrest Gump“ oder sei es das prägnante Bild des cleveren Tölpels, der samt Koffer und Pralinenschachtel auf einer Parkbank sitzt. Forrest Gump ist das perfekte Beispiel für eine visuellen, auditive und inhaltliche Memschleuder. Immer wieder gerne zitiert, immer wieder gerne parodiert und regelmäßig in diversen Best-Of-Listen weit vorne. Aber was steckt wirklich in dieser cineastischen Pralinenschachtel?

Die Inszenierung ist – und mit dieser Aussage lehnt man sich nicht allzu weit aus dem Fenster – über jeden Zweifel erhaben. Robert Zemeckis der mit Perlen wie Zurück in die Zukunft (1985), Falsches Spiel mit Roger Rabbit (1988) oder Cast Away (2000) schon mehr als einmal in die Filmgeschichte eingegangen ist, versteht es einfach, nach klassischen Hollywood-Blockbustermaßstäben und dennoch originell und mitreißend zu inszenieren. Das betrifft den ganzen dramaturgischen Aufbau ebenso wie die Kameraführung, den Rhythmus und die stimmige Gesamtatmosphäre. Mit einer ungemeinen Leichtigkeit bewegt er sich durch die amerikanische Geschichte, porträtiert diese lebendig, unterhaltsam und mit viel Verve. Die eingestreuten filmischen Zeitdokumente sind pointiert gesetzt, die Absurditäten des Gump’schen Lebens werden organisch in das historische Setting eingebettet und Humor und Tragik halten gewitzt die Balance.

Ebenfalls auf der Habenseite steht der Cast: Tom Hanks als Sonderling und zugleich Jedermann überzeugt mit einer simplen aber umso effektiveren Darstellung. Spätestens seit Philadelphia (1993) ist ohnehin klar, dass der Mann was kann, auch wenn er nicht immer Gelegneheit bekommt, dies unter Beweis zu stellen. Forrest Gump, der genau ein Jahr nach dem packenden Gerichtsdrama entstand, ist der zweite erfolgreiche Versuch Hanks, sich vom Image des Kaspers und Filmclowns zu befreien. Und er nutzt auch hier diese Gelegenheit ausgiebig. Geschickt pendelt er zwischen Tragik und Komik und gibt seinem Protagonisten mimisch und gestisch doch genug Nuancen und Facetten, um ihn authentisch und lebendig wirken zu lassen. Ähnlich verhält es sich auch mit dem Rest des Casts: Robin Wright Penn spielt überzeugend eine abgeklärte und doch anlehnungsbedürftige Jenny, Mykelti Williamson gibt seinem Bubba vielleicht ein oder zwei Klischees zu viel mit auf den Weg, weiß nichtsdestotrotz zu unterhalten; und über allen thront wie selbstverständlich Gary Sinise, der als Lt. Dan wohl die beste Performance seiner Karriere abliefert.

So viel auf der Habenseite? Also rein mit Forrest Gump in den Filmkanon! Oder? Ganz so leicht macht es uns Zemeckis Klassiker – wie erwartet – dann doch nicht. Ein Vergleich mit der (herausragenden, leider viel zu selten gewürdigten) Vorlage macht das deutlich: Und damit wir uns hier nicht falsch verstehen. Einen Film mit seiner Vorlage zu vergleichen, um ihn anschließend abzustrafen, ist immer so meehh, und eigentlich gehört es sich auch einfach nicht, da der Film als autarkes Werk für sich beurteilt werden sollte… in diesem Fall allerdings bietet es sich einfach sehr gut an, weil der Film vieles falsch macht was der Vorlage gelingt und sich so zwingend die Frage stellt: Wäre das nicht auch besser gegangen?

Als erstes wäre da die Bravheit, mit der Forrest Gump seine Geschichte erzählt. Praktisch alles richtig Absurde, Übertriebene, was die Vorlage so vergnüglich macht, fällt in der Umsetzung der Schere zum Opfer. Winstons Grooms Roman Forrest Gump (1986) arbeitet exzessiv mit Übertreibungen und Over-the-Top-Einschüben, um seine Geschichte jederzeit im fantastischen, parabelhaften zu flankieren: Forrest Gump fliegt in dieser in den Weltraum, wird Profiwrestler, Politiker und darf am Schluss auf der Straße mit einem kleinen Affen Musik machen. Im Vergleich dazu spult der Film sein Programm fast schon vorhersehbar ab: Klar, auch hier darf Forrest Gump so manchen Schlenker schlagen. Aber es ist schon was anderes, ob der Protagonist in den Weltraum und Wrestlingring geschickt wird, oder nach dem Vietnamkrieg ein bisschen Tischtennis spielt, um kurz darauf auch schon seinem Fischerhandwerk nachzugehen.

Durch diese Fokussierung auf die weniger absurden Seiten des Gump’schen Lebens – beziehungsweise deren radikale Auslassung – bekommt Forrest Gump einen geradezu konservativen Touch. Und dieser wird verstärkt und pervertiert durch die Parallelisierung der Leben Forrests mit dem Jennys, auf eine fast schon penetrante Weise. Auf der einen Seite haben wir den gutmütigen, arbeitswütigen, bescheidenen Musteramerikaner: Forrest Gump, der keine Fragen stellt, der sich durchs Leben tragen lässt und zugleich trotzdem den amerikanischen Traum vom Tellerwäscher zum Millionär lebt. Auf der anderen Seite haben wir die „naive“ Jenny, die außerhalb der Gesellschaft nach ihrem Glück sucht und dabei grandios scheitert: Natürlich muss die Sympathisierung mit der Hippie- und Friedensbewegung in Gewalt enden – nämlich bei den ordentlich stereotypisierten Black Panther. Natürlich folgen darauf Drogenexzesse, Verwahrlosung die Flucht nach Hause und schließlich die tödliche Krankheit, die Jenny wie ein Stigma an ihr unstetes Leben erinnert und sie dieses auch final kostet. Während die unstete, suchende Jenny im Roman glücklich werden, heiraten und sogar ein Kind bekommen darf (Geschehnisse mit denen der literarische Forrest Gump nichts zu schaffen hat), muss sie im Film ernten, was sie vermeintlich gesäht hat. Der alternative Lebensweg wird dadurch geradezu vorgeführt, in einen bitterbösen Kontrast zum „guten“ american way of Life gestellt, der konsequent von Forrest Gump gelebt wird: Bescheidenheit, Fleiß und Puritanismus und vor allem keine Auflehnung gegen bestehende Umstände. Da war der Roman mit seinen Schlägen gegen den US-Konservatismus und seiner ironischen Spitzen gegen den amerikanischen Traum weitaus bissiger, satirischer und konsequenter. Robert Zemeckis Film ist so etwas wie das konservative Destillat dieser Idee.

Wird Forrest Gump dadurch zum schlechten Film? Nein, die liebevolle, perfekt inszenierte Tragikomödie hat trotzdem genug auf ihrer Habenseite, um sehenswert zu sein. Der penetrante, konservative Zeigefinger nervt aber ungeheuerlich, vor allem angesichts dessen, was hier alles möglich gewesen wäre. Forrest Gump fehlen einfach die Ecken und Kanten, die satirischen Spitzen und der differenzierte Blick auf die amerikanische Geschichte. Er ist ein braver, allzu unkritischer Blockbuster… und das auch unabhängig von dem Vergleich mit der literarischen Vorlage, dem er nicht im Geringsten Stand hält. Ordentlich, ja. Unterhaltsam, ja. Ab in den Filmkanon…? Muss nicht sein.

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Erstveröffentlichung: 2011