Die besten Dokumentarfilme der 2000er Jahre I

Bevor wir unsere 00er-Filmretrospektive endgültig dicht machen, widmen wir uns den großen nonfiktionalen Filmen des Jahrzehnts. Es gab viele spannende, interessante, mal mehr, mal weniger authentische, mal mehr, mal weniger stilisierte Dokumentarfilme in diesem Jahrzehnt. Naturbetrachtungen ebenso wie Medien- und Kulturgeschichtsstunden, Pop-Reflexionen, politisch engagierte Werke und vieles dazwischen. Die besten dieser Filmgattung passen – wie sollte es auch anders sein – nicht in einen Artikel und so gibt es in Kürze noch einen kleinen Nachschlag. Hier auf jeden Fall schonmal die erste Portion Realistisches, Wahres und Dennoch Schönes. Die besten Dokumentarfilme des Jahrzehnts, wie immer nach dem Klick.

Grizzly Man [Werner Herzog]

(USA 2005)

Das Leben eines Besessenen dokumentiert Werner Herzog in seinem beeindruckenden Film Grizzly Man. Im Mittelpunkt steht der Tierschützer Timothy Treadwell, der sein Leben zurückgezogen zusammen mit Bären in der Einöde Alaskas verbrachte. Wer hier jedoch Back to the Nature Romantik erwartet ist schief gewickelt: Herzog nutzt originale Archivaufnahmen Treadwells um ein höchst ambivalentes Bild des exzentrischen Mannes zu gestalten. So kontrastiert er die Wildlebensromantisierung des Hauptakteurs immer wieder mit der rauen Wirklichkeit, in der es um überleben genauso wie ums Töten geht. Dadurch gelingt ihm nicht nur eine klassische Naturdoku sondern ein eindringliches, zwiespältiges Menschen- und Naturbild.

Naqoyqatsi [Godfrey Reggio]

(USA 2002)

Auch eine Dokumentation, der vermeintlich nonfiktionale Filmbereich bleibt letzten Endes dem Subjektivismus verhaftet. Kein Film belegt dies eindrucksvoller als die gewaltige Bildkomposition Naqoyqatsi. Der dritte Teil der Qatsi-Trilogie von Godfrey Reggio ist ein expressiver Rausch der Bilder und Themen. Es geht um Kampf, Krieg, Gewalt, Bewegung, Facetten des menschlichen Handelns. Begleitet von einer kongenialen Philip Glass Symphonie hangelt sich der Film entlang an seinen Bildern und Clips, zeigt, kommentiert ohne zu sprechen, schwelgt und leidet in der Zusammenführung von Geräusch, Bild und Thema. Ein wahwitziges, episches, dokumentarisches Gesamtkunstwerk, das nichts erklären muss und dadurch alles zeigen kann.

No Exit [Franziska Tenner]

(Deutschland 2004)

Schmerzhaft realistisch und alles andere als ästhetisch ist Franziska Tenners Dokumentation No Exit. Die Regisseurin begleitet darin mehrere junge Erwachsene aus einer rechtsextremen Kameradschaft in Frankfurt (Oder). No Exit ist ebenso komisch wie tragisch. Er zeigt Verlierer am Rande der Gesellschaft, zeigt ihr tölpelhaftes Werben um Aufmerksamkeit, ihre unfreiwillig komischen Aktionen, aber auch ihren irrationalen Hass, ihre radikale Weltanschauung und in leisen Momenten gar ihre traurigen Hintergründe, ihren Kampf um einfache Dinge wie Anerkennung oder Zuneigung. Das kann erheitern ebenso wie wehtun und gar Mitleid erzeugen. Einfach macht es Tenner ihren Zuschauern nie. Sie zeigt alles und löst damit höchst widersprüchliche Gefühle aus.

http://franziska-tenner.de/filme/no-exit/

Diesen Film haben wir auch in unserem Podcast besprochen.

JETZT REINHÖREN

Im Freibad [Alice Agneskirchner]

(Deutschland 2001)

Ganz klein und leise kommt dieses 60minütige Sittengemälde eines Berliner Schwimmbads daher. Nie im Kino gelaufen, anscheinend auch nie auf DVD veröffentlicht und nichtmal in den Weiten des Internet zu entdecken (wer dies wider Erwarten doch tut, bitte, bitte, bitte, bei mir melden!). Alice Agneskirchner porträtiert hier einfache, normale, skurrile Menschen: Alte Menschen, junge Menschen, und alle dazwischen. Und so entsteht in einem kleinen Schwimmbad ein beeindruckender Mikrokosmos, inszeniert mit leichtfüßigem Schwung, mit zurückhaltenden Bildern und dadurch ungemein einnehmend, empathisch, berührend, mit mehr Herz als tausend Kinodokumentationen in diesem Jahrzehnt aufbringen konnten. Ein bewegendes, schüchternes und dennoch überwältigendes Meisterwerk… So muss eine gute Alltagsdokumentation aussehen. So und nicht anders. Leider ohne Plakat, ohne Trailer, ohne Filmschnipsel, und wohl auch irgendwie ziemlich rar, aber unbedingt, zwingend, ohne Einschränkung sehenswert!

http://www.imdb.com/title/tt0291262/

24h Berlin – Ein Tag im Leben [Diverse]

(Deutschland 2009)

Alice Agneskirchner war ebenfalls am Mammutprojekt 24h Berlin – Ein Tag im Leben beteiligt. Und diese Alltagsdokumentation sprengt tatsächlich alle Grenzen. 24 Stunden, 1440 Minuten, über 50 Protagonisten, 80 Drehteams und über 300 Mitarbeiter. Das auf 24 Stunden zusammengeschrumpfte 750 Stunden Filmmaterial ist Alltagsgigantomanie in Reinform. Vom Obdachlosen bis zum Spitzenpolitiker, vom Abschleppfahrer bis zum DJ, zahlreiche Berliner werden in ihrem Alltag begleitet. Mal Schmerzhaft, mal komisch, mal rührend, mal peinlich… aber immer direkt dran am Leben, ohne Scheuklappen. Ein einzigartiges Hauptstadt- und Zeitporträt, ein ebenso monumentales wie banales Gemälde unserer Zeit, von dem mit Sicherheit auch noch kommende Generationen profitieren werden.

Taxi to the dark Side [Alex Gibney]

(USA 2007)

Über die dunklen Seiten US-amerikanischer Außenpolitik referiert Alex Gibney in seiner tiefschürfenden Dokumentation Taxi to the dark side. Als Aufhänger dient ihm hierfür der Tod eines afghanischen Taxifahrers, der im Gefängnis der Bagram Air Base von amerikanischen Soldaten zu Tode gefoltert wurde. Dabei beleuchtet er nicht nur die Foltermethoden der CIA und USA ganz allgemein, sondern ebenso deren mediale und künstlerische Verarbeitung, spricht auch mit Kritikern und Gegnern der amerikanischen Folterpolitik und gelangt so zu einem komplexen, differenzierten und nichts desto trotz erschütternden Gesamtbild. Eine beeindruckende Dokumentation über Formen der Unmenschlichkeit, die leider bis zum heutigen Tag in der Kriegs- und Außenpolitik westlicher Nationen stattfindet.

The Pervert’s Guide to Cinema [Sophie Fiennes, Slavoj Žižek]

(Großbritannien 2006)

Slavoj Žižek gehört schon seit längerer Zeit zu den renommiertesten Filmtheoretikern der Postmoderne. Seine Führung durch die perversen, abnormen Seiten des Kinos ist ein grandioses Schaulaufen durch zahllose Szenen, Einstellungen und Momente der Filmgeschichte. Mit schier unbändiger Assoziationskraft und dem rhetorischen Duktus eines psychoanalytischen Filmmetaphysikers auf Speed rast Zizek über 50er Jahre Schnulzen, tanzt mit Alfred Hitchcock landet bei klassischen Blockbustern der Marke Star Wars um schließlich eine 180° Wendung zum Absurden, Surrealen und Absonderlichen zu vollführen. Das Erstaunliche: Alles fließt, passt perfekt zusammen: Freud trifft Lacan trifft Nietzsche, trifft Spielberg, trifft Derrida, trifft Ripley… Lust trifft Begehren trifft Perversion trifft Angst, Theorie trifft Praxis. Ein cineastisches Mammutwerk von 2 1/2 Stunden, von denen keine Sekunde zu viel ist.

Derrida [Kirby Dick]

(USA 2002)

Wir bleiben kulturtheoretisch und philosophisch. 2002 hat der überragende Dokumentarfilmer Kirby Dick dem – leider mittlerweile verstorbenen – Dekonstruktivisten Jaques Derrida ein würdiges Porträt gewidmet. Wer die Schriften Derridas kennt, weiß, dass dies alles andere als einfach ist. Derrida liebt es sich in Differenzen, Selbst- und Fremdreferenzialitäten und sprachphilosophischen Schleifen zu verlieren, um die Wesentlichkeit des Unwesentlichen aufzudecken. Um dies einzufangen zeichnet Dick nicht nur ein biographisches Porträt des exzentrischen, poststrukturalistischen Denkers, sondern lässt diesen seine Thesen direkt auf den Film anwenden, mit dem Film kämpfen und das Werk selbst dekonstruieren, das wiederum zu einer Dekonstruktion des Derrida-Mythos mutiert. Aus dieser doppelten, dreifachen kritischen Bewegung entsteht ein komplexes Gedanken- und Menschenporträt, dicht an seinem Objekt, gerade dadurch dieses nie wirklich greifend und in seiner eigenen Beschränktheit durch und durch erfolgreich postmodern.

This Film is not yet rated [Kirby Dick]

(USA 2006)

Zu den größten Absurditäten des amerikanischen Kunst- und Medienalltags zählt mit Sicherheit die Motion Picture Association of America (MPAA). Dieser freiwillige Zusammenschluss verschiedener Filmstudios ist für die berühmten amerikanischen Altersfreigaben von G (Ohne Altersbeschränkung) über R(estricted) bis NC-17 verantwortlich. Kirby Dick untersucht und entlarvt in seinem Independentfilm die Skurrilitäten beim Altersfreigabefindungsprozess, die Homophobie und den christlichen Puritanismus der dabei eine Rolle spielt, sowie die mitunter fehlende Qualifikation der Board-Mitglieder. Heraus kommt ein hervorragend erzählter, spöttischer aber auch akribischer Dokumentarfilm, der geschickt zwischen Narration, trockenem Humor und bissiger Kritik pendelt.

Chain Camera [Kirby Dick]

(USA 2001)

Und gleich noch einen großartigen Independentfilm von Kirby Dick hinterhergeschoben. Chain Camera dürfte wohl mit zu den authentischsten Dokumentarfilmen aller Zeiten gehören. 10 Kameras, über 16  High School Schüler, keine Zensur, keine falschen Schnitte, nur pures Teenagerdasein. Die Protagonisten aus Dicks Film erzählen auf Videotagebüchern von ihrem Alltag, ihren Gelüsten, ihren Sorgen und Nöten, sie flirten mit der Kamera, ebenso wie sie unbeholfen versuchen mit ihr umzugehen. All das wird akribisch festgehalten, ist mal bewegend, mal komisch, mal simpel und banal, mal ärgerlich, aber immer direkt dran am Leben und am Schülerdasein. Ein faszinierendes, authentisches Jugendporträt ohne falschen Anspruch, ohne Heuchelei. Einfach nur pures Leben.

Encounters at the end of the world [Werner Herzog]

(Kanada, USA 2007)

Und noch einmal Werner Herzog. Die deutsche Regielegende begab sich 2007 mit seinem Kameramann Peter Zeitlinger in die Antarktis, um die Menschen zu treffen, die unter den unwirtlichen Bedingungen des kalten Kontinentes leben. Herausgekommen ist ein einzigartiges Gedicht von einem Film. Wie schon in Fata Morgana beeindruckt Herzog mit fantastischen Landschaftsaufnahmen, die das Leben zeigen, das sich hinter der vermeintlich toten Eiswüste verbirgt. Neben den beeindruckenden Schnee- Eis- Fels- und Wasserpanoramen sind es auch immer die dort lebenden Menschen, die faszinieren und neugierig machen. Das geschickte Arrangement von Natur, Mensch und Technik hält den Film so während seiner gesamten Laufzeit spannend und mitreißend. Eine kongeniale Mischung aus opulentem Ästhetizismus und exaktem, authentischen Porträt.

Ähnliche Artikel

Erstveröffentlichung: 2015