50’s, Pulp und Psychiatrie – Martin Scorseses "Shutter Island"

Martin Scorsese gehört zu jenen Regisseuren des New Hollywood, die sich ohne großen Qualitätsverlust in die 80er, 90er und schließlich sogar 00er Jahre retten konnten. Zudem gehört er zu jenen Regisseuren, die am ehesten das Erbe Alfred Hitchcocks in unsere Zeit gerettet haben. Er ist Autorenfilmer und zugleich Genrefilmer. Ebenso wie er vom Feuilleton für seine raffinierten inszenatorischen Einfälle gelobt wird, wird er auch vom Publikum für beinharte, kompromisslose Thrillerkost geschätzt und von den Studios für immer wieder erfolgsversprechende Projekte angeworben. Mit der Romanadaption „Shutter Island“ setzt er nun seinem Vorbild Hitchcock ein kleines Denkmal des neuen Jahrtausend. Nie war Scorsese offensiver psychologisierend, nie war er verspielter und nie war er trashiger.

USA, 1954: Edward Daniels (Leonardo Di Caprio) Kriegsveteran und US-Marshal wird beauftragt das Verschwinden einer Patientin aus der Psychiatrie zu untersuchen. Diese war auf der ungewöhnlichen Insel „Shutter Island“ untergebracht, die das psychiatrische Pendant zu Alcatraz darstellt. Abgeschirmt von der Außenwelt auf einem großen Eiland werden die gefährlichsten und verrücktesten psychiatrischen Patienten des gesamten Landes untergebracht. Mit seinem neuen Partner Chuck Aule (Mark Ruffalo) begibt sich Daniels auf die Insel, um die Flucht  der Patientin direkt vor Ort zu untersuchen. Schnell ist klar: Sie kann die Insel nicht verlassen haben, ebenso war ihre Flucht ohne Hilfe des Personals unmöglich.  Während seiner Ermittlungen in dem psychiatrischen Mikrokosmos stößt Edwards auf eine Mauer des Schweigens: Was verbergen die Insassen, Wachen und Pfleger? was verbirgt der zwielichtige Arzt Dr. John Calway (Ben Kingsley), was verbirgt der Psychiater mit Nazivergangenheit Dr. Jeremiah Naehring (Max von Sydow)? Auf der Suche nach der Wahrheit wird Daniels nicht nur mit seiner eigenen Vergangenheit konfrontiert, sondern muss darüber hinaus feststellen, dass etwas ganz und gar nicht stimmt an diesem Ort, der eigentlich eine Vorzeige-Psychiatrie sein sollte…

Ein alles durchdringender, pompös düsterer Score, Leonardo Di Caprio als abgehalftertes Raubein, dunkle, nebelumschwadete Bilder. Gleich zu Beginn fühlt sich der Zuschauer an Scorseses 90er Jahre Klassiker „Kap der Angst“ erinnert. Die Inszenierung als aufdringlich zu bezeichnen, wäre die Untertreibung des Kinojahres. Alles ist von misanthropischer Schlechtigkeit durchflutet, Sympathiepunkte wollen erst einmal nicht verdient werden, stattdessen heißt es Klotzen, Klotzen, Klotzen. Was bei Departed und (dem mittlerweile auch schon wieder 10 Jahre alten) Bringing out the dead angedeutet wurde, wird hier zur Vervollkommenung getrieben. Die Welt ist ein böser Ort, der Mensch ist des Menschen Wolf, und Vertrauen ist ohnehin nur etwas für die Schwachen. Neben diesem pompösen Nihilismus macht sich aber auch ein zweites, subtil verstecktes, atmosphärisches Fundament in dem Shutter Island-Kosmos breit: Die Freude am Pulp und Trash. Scorses verortet seinen Film in den frühen 50er Jahren. Anstatt diese Vorlage zum Zeichnen einer Hochglanzwelt zu gebrauchen, überspitzt er diese allerdings maßlos. Licht- und Schattenspiele, die aus Noir-Filmen bestens bekannt sind, werden bis zum Exzess eingesetzt. Die Paranoia der McCarthy-Ära werden bis zum Wahn überzeichnet und wie es sich für diese Zeit gehört, wird eine Zigarette nach der anderen geraucht. Dabei ist eine gewisse Spitzbübigkeit in der Inszenierung nicht zu übersehen. Hinter der pathosschwangeren Fassade grinst eine koboldhafte, selbstironische Inszenierung hervor, die sich einen Dreck um Realismus schert.

Das wird spätestens dann deutlich, wenn der Mikrokosmos Shutter Island (auf dem die gesamte filmische Handlung stattfindet) in allen Einzelheiten präsentiert wird. Shutter Island zeigt eine mysteriösen, unwirklichen Ort, und ist dementsprechend ein hochartifizieller Film. Die exquisite Kameraarbeit fährt direkt hinein in die Wahrnehmung ihres Protagonisten, Realität und Paranoia verschwimmen miteinander, Träume, Alpträume, Visionen werden wie selbstverständlich in den filmischen Kosmos eingebettet. Wer hier die realistische Darstellung einer 50er Jahre Psychiatrie erwartet, ist definitiv fehl am Platz: Alles ist überzeichnet, grotesk, kafkaesk und latent bedrohlich. Das wird noch verstärkt durch den artifiziellen Look, den Scorsese seinem neusten Film zum Geschenk macht. Gerade im Hinblick auf die Entwicklung der Geschichte ist dieser sinnvoll, wenn auch oftmals irritierend. So werden die extreme n Kamerafahrten bis aufs Äußerste getrieben, die Raum- und Zeitwahrnehmung des Zuschauers immer wieder herausgefordert, Traumsequenzen außerhalb des eigentlichen Storygerüsts bis ins Unendliche gedehnt und mit extremen Farbsättigungen und überarbeiteten Bildern gewerkelt. Die Postproduction dürfte an der Verfremdung und Überzeichnung des vorhandenen Materials jedenfalls ihre helle Freude gehabt haben.

Einen wichtigen Teil zu diesem grotesken Eindruck leistet auch das Maincast. Leonardo Di Caprio (mittlerweile die vierte Zusammenarbeit mit Scorsese in Folge) liefert hier gewohnt gekonnt eine exzellente beinahe One-man-Show ab. Er verleiht seinem raubeinigen Protagonisten einen herben, knarzigen Charme und hat dabei auch keine Angst vor (jederzeit passendem) Overacting, inklusive Kettenrauchen, wildem Gefluche und immer panischer, grotesker werdenden Mimiken. Mark Ruffalo verblasst daneben ein wenig als unerfahrener Ermittler mit Schreibtischhintergrund. Alles andere als blass sind dagegen die Insassen und das Personal der Heilanstalt. Ben Kingsley darf nach einigen miesen Rollen und viel Overacting in der letzten Zeit endlich mal wieder subtil bedrohlich sein Können unter Beweis stellen. Max von Sydow gelingt die Karikatur eines faschistoiden, sadistischen Seelenklempners auf grandiose Weise und auch die vermeintlichen Statisten wie Jacke Earl Haley und Michelle Williams gefallen in ihren psychotischen Rollen.

Die größten Schwächen von Shutter Island offenbaren sich dann aber doch in der Geschichte und Dramaturgie. So wie sich Scorsese an seinem überzeichneten Pulp-Look labt, so überzeichnet er schließlich auch die Handlung: Zahlreiche Sub- und Nebenplots, immer dicker aufgetragene Verschwörungen und als Sahneguss obendrauf gibt es ein sattes, vollkommen übertriebenes Ende, das alle Register sprengt und nur mit Attributen wie „übertrieben“, „too much“ und „effektverliebt“ umschrieben werden kann. Zudem ist der Plottwist in der letzten viertel Stunde gerade für versierte Zuschauer schon weit im Voraus zu erahnen und trotz wuchtiger Präsentation alles andere als der gewünschte überraschende Mindfuck. Vielleicht mag es auch einfach daran liegen, dass derartige Twists in den letzten zehn Jahren viel zu oft zu sehen waren und dass man von Scorsese etwas mehr Zurückhaltung hätte erwarten können. Aber auch hier war wohl der Spaß am schmutzigen Pulp stärker als die Verlockungen des Minimalismus.

Alles in allem macht Shutter Island dennoch oder gerade wegen seinem Hang zum exzessiven Übertreiben gehörigen Spaß. Es dürfte sich wohl sogar neben Departed und Cape Fear um einen der kurzweiligsten Filme Scorseses handeln. Mit Sicherheit kein Meisterwerk wie die New Hollywood Großtaten und auch ein leicht qualitativer Abfall zu den letzten Filmen. Dennoch ein absolut sehenswerter, kompromissloser Psychothriller, der konsequent seinem speziellen Stil folgt, sein Personal gehörig durch die Mangel dreht und am Ende ein zufriedenes Publikum zurücklässt. Martin Scorsese wühlt im Dreck und heraus kommt ein durch und durch sehenswerter, herrlich übertriebender Pulp-Thriller.

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Erstveröffentlichung des Textes: 2011

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