Scheitern im Großen – Klaus Kinskis legendäre Rezitation „Jesus Christus Erlöser“ auf DVD

Du, der so ein großes Maul hat, kommst jetzt nach vorne – sagt Schauspieler Klaus Kinski und fixiert mit einem starren Blick einen seiner Zuhörer, die immer wieder durch laute Zwischenrufe das Programm stören. Ein nervöser, stiller Herr von den funkelnden Augen Kinskis malträtiert, betritt die Bühne. Zaghaft spricht er ins Mikrophon: Er denke, dass viele hier Jesus suchen würden, aber Klaus Kinski, Schauspieler, Rezitator, der Deutschen liebster Soziopath sei es mit Sicherheit nicht. Denn Jesus hätte Vergebung und Geduld gelehrt und er hätte, wenn ihm jemand widersprochen hätte, versucht diesen mit Argumenten zu überzeugen. „Nein“ ist die wütende Antwort Kinskis. „Er hätte eine Peitsche genommen und ihm in die Fresse gehauen“, brüllt er wie von der Tarantel gestochen, nur um den Störenfried im nächsten Moment mit einem cholerischen „Du dumme Sau!“ von der Bühne zu jagen.

Bevor Kinskis legendäre Karriere als Schauspieler in den Meisterwerken Herzogs (Aguirre der Zorn Gottes, Fitzcarraldo) begann, war er nicht nur als Nebendarsteller in unzähligen Edgar Wallace Verfilmungen (meistens in der Rolle des mysteriösen Psychopathen) und als Bösewicht in durchschnittlichen Spaghettiwestern bekannt, sondern hatte sich auch durch die Rezitation klassischer Texte auf unzähligen Kleinkunstbühnen einen berüchtigten Ruf als ästhetischer Demagoge erarbeitet. Der Vortrag seines selbst verfassten Textes „Jesus Christus Erlöser“ – eine Adaption des Neuen Testamentes sollte das Prinzip des einsamen Vortrages von den Kleinkunstbühnen in die großen Stadien bringen. Die Premiere der Soloperformance am 20. November 1971 in der Deutschlandhalle in Berlin geriet zum großen Desaster. Kinskis Vortrag, in großen Hallen scheinbar fehl am Platz, wurde ständig von lauten Zwischenrufen von linken 68ern gestört, die lieber diskutieren als zuhören wollten. Kinski selbst brach die Vorstellung mehrmals ab, um den Vortrag schließlich um 2 Uhr Nacht nach mehrmaligem Neubeginn vor einem auf 100 Personen zusammengeschrumpften Publikum zu beenden. Die Presse lästerte, die Kritiker tobten, die geplante Tournee wurde abgebrochen. Kinski versuchte sich nie wieder auf der Bühne.

Regisseur Peter Geyer ist es nun zu verdanken, dass der Mitschnitt dieses berühmt gewordenen Abends endlich als nahezu abendfüllendes Filmerlebnis zur Verfügung steht. Anhand des vorhandenen Materials schnitt Geyer Kinskis Performance zusammen, nutzte die von dem Redner und Publikum „erzwungenen“ Pausen um Zitate zu den Ereignissen einzublenden und bannte das ganze in einen knapp 90minütigen Film, der auf erstaunliche Weise die Atmosphäre in der Halle und die Kämpfe während des Vortrags und auch den Text selbst lebendig werden lässt.

Und dieser erscheint erstmal ausgesprochen brav, harmlos und in keinster Weise den Aufruhr im Publikum rechtfertigend. Kinski bedient sich bei seinem Text vielfach originaltreu bei Passagen aus dem neuen Testament und bringt diese nur in wenigen Momenten mit aktuellen Zeitbezügen in Verbindung. So redet er von weinenden Müttern in Vietnam, von prügelnden Polizisten und gebietet in einem infernalen Wutschrei dem Papst, er solle die Schnauze halten. Vorgetragen wird das ganze als eine Art Steckbrief. Gesucht wird Jesus als Aufrührer, Revolutionär und Anarchist, die Polizei bittet um Mithilfe. Im Folgenden wechselt Kinski mehrfach die Rolle: Wird zum Sucher, Ankläger, Verteidiger und schlüpft schließlich in die Rolle des Märtyrers selbst: „Ich bin nicht euer Superstar“ brüllt er dann laut eine unverhohlene Anspielung auf das damals äußerst erfolgreiche Musical „Jesus Christ Superstar“ und erntet erneute Buhrufe und Störungen.

Dies wäre dann das wahrhaft Faszinierende, was den Abend ausmacht. Kinski trägt nicht einfach vor. Er kämpft: Mit sich selbst, mit den Tränen und schließlich auch mit dem Publikum. Mit einer ungeheuren Suggestivkraft schreit er, keift, flüstert, wütet und verführt. Es ist unvorstellbar, welche Präsenz, welche Kraft ein einzelner Mensch auf einer riesigen Bühne ausstrahlen kann. Kinski verführt und stößt zugleich ab, viel wichtiger als der Text scheint der Vortrag des selben: Immer am Rande zwischen anarchistischer Aufrührerei und faschistoider Suggestionskraft. Wenn man Kinskis krasse und wandelbare Stimme gehört, seine manischen Augen dabei gesehen hat, so vergisst man sie so schnell nicht wieder. Was in der reinen Textform er eine unoriginelle Modernisierung der Evangelien ist, wird im Vortrag zu einem rhetorischen Monstrum, zu einer gnadenlosen Verführung, zu einem Sog aus gefangen nehmenden Blicken, minimalistischen Gesten und berauschender Sprache.

Und in diesem Moment kommen die Störungen ins Spiel, die den Abend vollends zu einem gigantomanischen Desaster und zugleich mitreißenden Meisterwerk werden lassen. Weder Kinski noch das Publikum scheinen aufeinander vorbereitet. Er will vortragen, verzaubern, berühren und verstören, aber vor allem will er zu Ende gehört werden. Die Zuhörer wollen zu großen Teilen kritisieren, stören, diskutieren. Die Schattenseiten der 68er Diskussionskultur kommen hier ebenso zum Vorschein wie der unbändige Narzissmus des Redners Kinskis. Anstatt sich den Vortrag in Ruhe anzuhören und mit Kritik oder Diskussion bis zum Ende der Vorstellung zu warten, stört das junge Publikum bereits in den ersten Minuten mit Zwischenrufen, die Kinski als Heuchler und faulen Millionär anprangern, die ihm eine Identifikation mit dem Messias vorwerfen – was angesichts des Textes ziemlich abwegig ist – oder die ihn einfach als „Arschloch“ titulieren. Kinski selbst, unfähig mit Kritik umzugehen, beleidigt das Publikum, schreit es an und schubst mit Hilfe seiner Security einen Diskussionswilligen gar von der Bühne, nur um kurz darauf wegen dieses Zwischenfalls die mantrischen Schmährufe „Kinski ist ein Faschist“ über sich ergehen zu lassen.

Hier zeigt sich eine seltsame Form der Kulturfeindschaft bestimmter 68er Subkulturen. Kinskis Text, der eigentlich zu der Befindlichkeiten und der Wut eines linken Publikums mit seiner Imperialismus-, Staats-, und Kirchenkritik perfekt passt, wird überhaupt keine Chance gegeben. Stattdessen wird die Person Kinskis selbst ins Zentrum der Kritik gerückt. Sein rollentechnisch ambivalenter Vortrag wird zu einer Identifikation mit dem Messias umgedeutet, Kinski selbst somit in die Rolle des Narzissen und Größenwahnsinnigen gedrängt. Von seinen Wutausbrüchen begeistert, haben viele auch einfach puren Spaß daran den Exzentriker und Choleriker zu provozieren und zu wüsten Ausbrüchen zu treiben. Durch dieses Zusammenspiel entsteht ein wilder Kampf, ein Fest des Aneinander Leidens und Aneinander Vorbeiredens, ein Zeitzeugnis, dass große Divergenzen der Zeit zwischen Kunst und Politik, Traum und Realität aufzeigt.

Ebenso wie Kinski mit seiner soziopathischen, wahnhaften Eitelkeit trägt auch das Publikum mit seiner bornierten Ignoranz dazu bei, dass der Abend zu einem delikaten Fiasko wird, das der Film perfekt einfängt. Weder die Kraft Kinskis, noch die des Publikums leidet unter der Bannung auf Zelluloid und somit ist „Jesus Christus Erlöser“ nicht nur ein großartiges Zeitzeugnis und eine Hommage an das rhetorische Genie Kinskis sondern darüber hinaus ein sehenswertes Fest für alle Freunde des geschliffenen Vortrags und all die, die sich gerne von einer unnachahmlichen rhetorischen Suggestivkraft in den Bann ziehen lassen. Unbedingt bis zum Ende ansehen… denn diskutieren kann man auch immer noch hinterher!

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OV: 2010