Was sind Korsakow Filme?

Als Mediengestalter und Regisseur Florian Thalhofer im Jahre 2000 einen Film über Alkoholismus drehte  (Korsakow Syndrom), suchte er nach einer Möglichkeit, dem Sujet auch narrativ und ästhetisch gerecht zu werden. Aus diesem Antrieb entstand das so genannte Korsakow-System, eine Oberfläche für nonlineare Dokumentar- und Spielfilme. Zehn Jahre ist dies mittlerweile her und die Korsakow-Filme haben es trotz faszinierender Ideen und großartigen daraus entstandenen Dokumentationen leider nie über einen gewissen subkulturellen Bereich hinaus geschafft.

Ihren Namen verdanken die Korsakow-Filme dem Korsakow-Syndrom, einer Form der Amnesie, die zum ersten Mal bei Alkoholikern diagnostiziert wurde. Diese spezielle Gedächtnisstörung sorgt dafür, dass sowohl das Kurzzeit- als auch das Langzeitgedächtnis des Erkrankten betroffen ist. Erinnerungen gehen bereits nach kurzer Zeit verloren, arrangieren sich neu, Altes wird mit Neuem verknüpft, es entstehen Synapsen und Verbindungen, die scheinbar keinen logischen Sinn ergeben. Die Korsakowfilme entpathologisieren das Syndrom und machen es zum ästhetischen Stilmittel.

Ein Korsakow-Film besteht aus so genannten SNUs (Smallest narrative Units). Diese Snus sind kurze Clips, Videoschnipsel die direkt aus der Handlung der Dokumentation stammen und einen kleinen Teilaspekt des Gesamtkomplexes vermitteln. Das besondere an diesen scheinbar lose im Raum stehenden Snus ist ihre Verbindung zu weiteren Snus. Jede Einheit hat Eingänge und Ausgänge – so genannte POCs (Points of Contact) – Jede Sekunde können sich neue Abzweigungen, neue Verästelungen auftun und wieder verschwinden. Über diese kommt der Zuschauer zum Eingang eines weiteren Snus und hangelt sich so langsam durch den Film, der sukzessive seine Gesamtheit offenbart. Korsakow-Filme werden dadurch im besten Fall zu einer beeindruckenden Demonstration des nonlinearen Erzählens. Jeder Zuschauer erlebt seinen ganz eigenen Film, jeder Besucher klickt sich durch andere Ästelungen und Weggabelungen, ja sogar jedes Anschauen eines bestimmten Films kann sich von Mal zu Mal unterscheiden.

Was in der Theorie erst einmal krude und schwer zu vermitteln klingt, offenbart in der praktischen Umsetzung seine ganze Kraft. So zum Beispiel in dem ausgezeichneten Dokumentarfilm Planet Galata – Eine Brücke in Instanbul. In dieser lassen sowohl Thalhofer als auch Korsakow ihre Muskeln spielen. Entlanggehangelt an mehreren verschiedenen Protagonisten, durch Themen und Subthemen, vorbei an Schwerem und Banalen, entwickelt der Film ganz allmählich ein komplexes Gesellschaftsporträt der postmodernen Türkei… und weit darüber hinaus. Jeder einzelne SNU eröffnet eine ganze Reihe von Assoziationen, führt neue Personen ein, denkt tiefer und weiter oder liefert sehr freie Verknüpfungen, die auf den ersten Blick unpassend scheinen, sich aber dennoch in den Gesamtkontext sanft einbetten.

Dank des Open Source Charakters des gesamten Projektes gibt es mittlerweile unzählige Korsakow-Filme. Thalhofer bastelt nämlich nicht nur an seinen Filmen, sondern stellt auch gleich das passende kostenlose Tool zur verfügung, mit dem wirklich jeder seine eigenen Korsakow-Filme zusammenschneiden kann. Das intuitiv zu bedienenden WYSIWYG-Schnittwerkzeug hat alles on board, was der Filmemacher zum Erstellen eines nonlinearen Filmprojektes benötigt. Die einzelnen Clips können bequem eingespeist, mit Stichworten versehen und so miteinander verbunden werden. Von der Aufgabe das einfach zu bedienende Werkzeug klug einzusetzen, ist der Filmschaffende dadurch natürlich nicht entbunden.

Richtig genutzt ist das Korsakow-System eine fantastische Plattform sowohl für Filmschaffende als auch Filmgenießer. Nonlineares, ausgewogen arrangiertes Anti-Erzählkino, die Interaktivitätsmöglichkeiten des Webs ausgewogen nutzend und dadurch großartige Dokumentarfilme und noch einiges darüber hinaus erschaffend. Allein sämtliche Thalhofer Filme, die so entstanden sind, sind es wert entdeckt zu werden. Aber auch darüber hinaus gibt es in der Welt der SNUs und POCs viele Dokumentations- und Filmperlen. Die Reise lohnt sich…