Regisseur Sidney Lumet gestorben

Gestern ist der amerikanische Regisseur Sidney Lumet im Alter von 86 Jahren gestorben und hinterlässt damit eine große Lücke in der amerikanischen Filmszene. Lumet gehörte zu jenen Regisseuren, die über die Jahrzehnte hinweg unermüdlich drehten, sich selbst nie verrieten, neue Filmkonzepte und Bewegungen in ihre Arbeit aufnahmen und dennoch ihrem eigenen Werk treu blieben. Davon zeugt seine beeindruckende Filmographie, deren Beginn in den 50er Jahren liegt und die bis in das 21. Jahrhundert reicht. Ein kleiner Rückblick…

Schon Lumets Debütfilm Die zwölf Geschworenen (1954) schrieb Filmgeschichte: Dieses kleine, in sich selbst auf das Minimum reduzierte Justizdrama, in dem der Gerichtssaal praktisch keine Rolle spielt und sich die Handlung stattdessen auf ein enges, verschwitztes Hinterzimmer beschränkt, in dem die Geschworenen über das Schicksal eines jungen Puertoricaners  entscheiden. Lumet hatte immer ein Faible für reduzierte Settings, in denen sich große Geschichten austragen. Lumet liebte das mikroskopische Porträt als Parabel auf gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge, ließ seine Protagonisten oft in Räumen, Kleinstädten oder Hinterzimmern existenzielle Fragestellungen verhandeln, ohne dass diese Reduzierung je zum Selbstzweck geriet. Neben dieser Reduktion spielten auch immer Heist- und Crimethemen eine wesentliche Rolle in Lumets Filmen: Ehemalige Straftäter, die aus ihrer Haut nicht heraus kommen, wie in dem klaustrophobischen Drama Der Mann in der Schlangenhaut (1959), Kleinverbrecher, die den einen großen Coup planen und dabei mit gesellschaftlichen Wirklichkeiten konfrontiert werden, wie in Der Anderson Clan (1969) oder familiäre Verstrickungen in der Welt des Verbrechens wie in seinem letzten Film, dem vielgelobten Before the Devil knows you’re dead – Tödliche Entscheidung (2007).

Sidney Lumet rannte den Trends nie hinterher und war dennoch stets nah am Puls der Zeit. Für einen Regisseur, der ein halbes Jahrhundert begleitet hat, alles andere als selbstverständlich. Während er in den 50er und 60er Jahren spannende Justiz- Thrillermelodramen drehte, die Motive und Klischees der damaligen Filmindustrie aufnahmen, um sie anschließend zu reflektieren, zu hinterfragen und zu dekonstruieren, schien er schon damals die packenden Genreentwürfe des New Hollwood vorwegzunehmen. Als dieses sich dann schließlich breitflächig in den 70er Jahren durchsetzte, reagierte Lumet auf ganz eigene Weise auf die neu entstandenen Trends mit dem düsteren, systemkritischen und pessimistischen Copthriller Serpico (1973) und dem soziologisch akribischen, Homosexualität und Medienkritik thematisierenden Kriminalmelodram Hundstage (1975), das als wegweisender Klassiker des New Hollywood Kino gilt. Dass der ebenso visionäre wie rebellische Lumet sich aber nie von filmischen Bewegungen und Epochen vereinnahmen ließ, bewies er, als er zwischen diesen beiden naturalistischen Thrillern Agatha Christies Mord im Orientexpress (1974) als opulentes Krimiepos verfilmte, das in seiner traditionellen Inszenierung so gar nicht in die Zeit des grimmigen New Hollywood passen wollte.

Lumets dritter großer 70’s Klassiker ist die grimmige, gesellschaftskritische, nahezu apokalyptische Mediensatire Network (1976), in dem er viele Motive der fernsehkritischen Satiren der 80er Jahre vorwegnimmt, so wie er bereits zuvor New Hollywood mit seinen naturalistischen Trillerdramen den Weg ebnete. Lumet war mehrmals für den Oscar nominiert – und auch wenn er davon ausging, einen verdient zu haben – ist es vielleicht sogar besser, dass er nie einen der begehrten Awards erhalten hat. So musste er sich nie von irgendwelchen Trends vereinnahmen lassen und konnte diese mitunter sogar selbst setzen, nur um sie selbst kurz darauf wieder zu unterwandern. Lumet drehte bis ins hohe Alter Filme, hatte einen ungeheuren Output und tat folgerichtig auch den ein oder anderen Missgriff. Bedingungslose Meisterwerke sind nicht alle seine Filme. Gerade in den 80ern 90ern spulte er mit Filmen wie Family Business (1989) sein Talent für akribische, kriminalsoziologische Charakterstudien mindestens einmal zu oft, zu repetiv und redundant ab. Seine besten Filme erweisen sich jedoch – auch heute noch – als genaue, rücksichtslose soziale Studien, spannende Thriller und bewegende Dramen. Sidney Lumet war ein großer Beobachter der Gesellschaft und ein Virtuose in der Übertragung dieser Beobachtungen auf seine Schauspieler und die Leinwand. Er gehört nicht einfach in die Riege erstklassiger Hollywoodregisseure sondern darüber hinaus zu den wenigen Künstlern, die das ganze vergangene cineastische Jahrhundert geprägt haben.

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