Ich bin ein Akademiker, holt mich hier raus! – Zum Start des Dschungelcamps 2015

Bei unserem Fernseher sind die Sender verstellt: Einmal komplett durcheinandergewürfelt in einer Reihenfolge, in der wohl kein deutscher TV-Zuschauer seine Sender einstellen würde. Irgendwann mitte letzten Jahres wollten wir von Zimmerantenne auf Kabel umstellen, und zack ist es passiert. Nicht, dass ich nicht wüsste, wie ich die ganzen verschiedenen Programme wieder auf ihren logischen Platz verschieben könnte… Aber das ist trotz vermeintlichem Smart-TV so zeitraubend wie eh und je, und außerdem habe ich mich mittlerweile an das hierarchielose Chaos gewöhnt. Auf den ersten zehn Programmplätzen tummeln sich RTL und RTL2 neben irgendeinem Home Shopping Kanal, Nickelodeon und einem nicht sauber eingestellten Kabel1. Will ich Arte schauen, muss ich auf die 11 gehen (ehrlich, ohne prätentiösen Snobismus: Das ist die einzige Zuordnung, die ich mir merken kann), und will ich die gute alte Tagesschau gucken, muss ich mich irgendwo in die 30er Regionen begeben. Gestern habe ich endgültig beschlossen, das jetzt so stehen zu lassen. So ein bisschen ist damit auch die Hoffnung verbunden, dass wenn meine Eltern das nächste mal zu Besuch kommen und mein Vater die ZDF-Nachrichten genießen will, er beim Einschalten einen Mordsschreck bekommt und mich fortan als Unterschichten-TV-Glotzer abstempelt. In unserem gutbildungsbürgerlichen ARD/ZDF/3SAT/Arte-Haushalt damals wäre meine derzeitige TV-Sender Top10 ein übler Affront gegen den guten Geschmack gewesen. Mehr noch: Geradezu ein Symbol für ein wachkomatöses TV-Konsumzombie-Dasein. Insofern darf ich mich sogar ein wenig als vom Elternhaus emanzipierter Rebell fühlen, wenn ich den Fernseher einschalte und auf meinem persönlichen ersten Programmplatz gleich mal von „Berlin bei Tag und Nacht begrüßt“ werde.

Gestern jedenfalls hat die derzeitige Unterschichten-TV Besessenheit unseres Haushalts ein neues Level erreicht: Wir haben uns, pünktlich (!) um 21:15 vor dem Gerät zusammen gefunden um bewusst (!) „Ich bin ein Star holt mich hier raus“ (!) auf RTL (!) zu schauen. Und, ganz wichtig, wir haben uns dabei nicht in philosophische, soziologische oder feuilletonistische Diskussionen über postmoderne Helden, Star-Ikonographie oder Voyeurismus verstrickt. Wir saßen einfach nur wie Zombies vor dem Fernseher und haben das Elend über uns ergehen lassen. Darauf bin ich sehr stolz, denn Dschungelcamp kann ja nun wirklich jeder: FAZ-Feuilleton, Philosophieprofessor, Kulturjournalist, Medienwissenschaftler… Wenn etwas in den letzten Jahren seinen Ruf verloren hat, Verblödung für die breite Masse zu sein, dann dieses Reality Soap Format. Insofern muss man, wenn man gegen den intellektuellen, stilbewussten, akademischen Feuilleton Mainstream rebellieren will, schon schwerere Geschütze auffahren: Und das kann eigentlich nur bedeuten, die Dummheit, die diese Sendung einst so groß machte, vollkommen zuzulassen, ohne Metaebene, ohne doppelten Boden und vor allem ohne jeden nachdenklichen, akademischen Überbau.

Das ist erst einmal eine Herausforderung, alles andere als einfach, angesichts der Tatsache, wie clever die deutsche Survivor-Adaption in den letzten Jahren geworden ist: Das liegt zum einen an den beiden Hosts der Show: Auch ohne Dirk Bach an ihrer Seite ist Sonja Zietlow eine Offenbarung an sarkastischer und ironischer Gehässigkeit, was Gestik, Mimik und Sprache betrifft, und ihr neuer Co-Moderator Daniel Hartwich ist der feuchte Traum einer jeden Hipster-Vermarktungsmaschinerie: Clever, charmant, witzig, scheinbar permanent am Augenzwinkern und dabei mit einem unüberschaubaren (subtil weichgespülten) Joko/Klaas/OlliSchulz-Charisma gesegnet. Zum zweiten liegt das an den Texten, die dem Moderatorenpärchen in den Mund gelegt werden. Diese sind – man kann es nicht anders sagen – Gold wert: Wer auch immer diese Texte für RTL schreibt, hat jede nur erdenkliche goldene Feder verdient: Selbstironisch und selbstreflexiv fast bis zum Überdruss, manchmal bitterböse, manchmal gleich mit dreifacher Reverse Irony durchzogen, mühelos vom Zynismus über den Pathos über die ironische Dekonstruktion der eigenen Dramaturgie wieder zurück zum Sarkasmus findend und dann am Schluss dennoch irgendwie (wie auch immer) bei klassischen Entertainment Onelinern ankommend. Das war schon letztes Jahr so (als ich zum ersten Mal bewusst das Dschungelcamp regelmäßig verfolgt habe), und das ist auch dieses Jahr wieder der Fall. Und zum Dritten liegt dieser Bruch mit der Dummheit in der Musikauswahl der dschungelcamp’schen Postproduktion verborgen: Ehrlich, wie soll man das Hirn ausschalten, wenn dieses permanent mit großartigen Indie/Prog/Postrock-Klassikern verwöhnt wird? Von Radiohead über Godspeed You! Black Emperor und Weezer bis zu Danzig ist bei „Ich bin ein Star, holt mich hier raus!“ alles dabei, was der Musikliebhaber jenseits aktueller Radiocharts und TV-Fahrstuhlberieselung wünschen kann.

Aber wir hatten gestern Abend eine Mission: Unterschichten-TV glotzen, jenseits jedes Grimme-Preises und jeder Medienphilosophie. Und wenn man die dazu nötige Dummheit schon nicht in der Metaebene finden kann, so zumindest doch bei den Teilnehmern, die sich dieses Jahr im Dschungel einfinden und wie bereits im Jahr 2014 den letzten wahren Proll-Trumpf des Formates darstellen. Dass man kaum eine der TeilnehmerInnen der Sendung kennt? Geschenkt. Wie üblich gehen diese nicht einmal mit viel gutem Willen nicht einmal mehr als C-Prominenz durch: Ehemalige Bacholer_Ette-Kandidaten, DSDS-Casting-Teilnehmer, die es anscheinend nur mit Ach und Krach in die Endrunden geschafft haben, „Super“-Models und Soap-Darsteller aus der zweiten Reihe: Dass man die beiden Privatfernsehen-Ikonen Maren Gilzer und Walter Freiwald kennt, liegt – um ehrlich zu sein – auch nur daran, dass man in den frühen 90er Jahren noch genug Zeit hatte, die Abgründe des privaten Trash-TVs zu durchforsten, und dass eben nicht der abgehalfterte Schlagersänger Roberto Blanco für die Sendung gewonnen werden konnte, sondern nur seine Tochter (Rolle: Tochter, besonderes Kennzeichen: Tochter, bekannt als: Tochter) spricht Bände. Einzig der ehemalige Boygroup-Sänger Benjamin „Caught in the Act“ Boyce versprüht ein wenig den Hauch von C-Prominenz in einer Gleichung voller ansonsten unbekannter Variablen.

Aber diese Unbekannten ermöglichen es dem Zuschauer dann doch, Gott sei Dank, den gefassten Plan in die Tat umzusetzen und sich von biederem Trash-TV in einen komatösen, hirntoten Zustand versetzen zu lassen: Das Erfolgsgeheimnis dabei ist nicht einmal so sehr die mangelnde Intelligenz des Personals (einige der Dschungelcamp-Opfer wie zum Beispiel Lindenstraßen-Star Rebecca Siemoneit-Barum kommen sogar recht abgebrüht und clever daher), sondern an der Repetition, mit der diese Personen des nicht öffentlichen Lebens inszeniert werden: Als wollten sowohl Darsteller als auch Regie jedes Experiment, jede Subversion vermeiden, werden einfach die Stereotype der früheren Dschungelcamp-Jahrgänge erneut abgespult. Als da wären: Die nölende, schlecht gelaunte, den Produktionsleiter permanent „Was glaubste denn, wie ich mich fühle?“ duzende Tollpatschin (Topmodel Sara Kulka, die sich redlich bemüht eine Larissa-Gedächtnisperformance abzuliefern), der alte „Gebt mir meine Zigaretten oder ich laufe Amok“ Wüstling (Danke, Walter), der „Ich schaffe jede Prüfung locker“-Macho mit Herz (Aurelio, der einige interessante Gedanken zur Brustgröße von Frauen mit dem Publikum teilte), der langweilige „Ich sehe das als große Prüfung“-Streber (Soapschauspieler und Schlagerschläger Jörn Schlönvoigt, der hoffentlich als erster vom Publikum rausgewählt wird), der quietschige Paradiesvogel (Rolf Scheider, quasi die ältere Variante von Julian Stöckel) und die beiden obligatorischen „Ich zieh mich zu jeder passenden Glegenheit aus“-Jungspunde, die bereits vor Beginn der Sendung im Playboy zu sehen waren.

Und wenn man die Stereotype erst einmal auf dem Schirm hat und zuordnen kann – was ehrlich gesagt gar nicht so einfach ist, da die Ex-Topmodel-Kandidatinnen doch irgendwie alle gleich aussehen -, kann der gedankenbefreite Spaß auch tatsächlich losgehen. Da werden dann nachdenklich Lebensweisheiten geteilt („Wenn es dunkel ist, ist es genauso wie am Tag. – Ja, aber du siehst nichts.“), treffende Personencharakterisierungen vorgenommen („Der Walter ist eben der Walter“) und englische Satzkonstruktionen rausgehauen, die von der australischen Crew erst einmal entziffert werden wollen („When I do this not, I’m losers“). Neben dem Fremdschamspaß wird ordentlich in die Pathostrickkiste gegriffen (so zum Beispiel wenn Sara nicht von ihrer Tochter erzählen kann, ohne in Tränen auszubrechen, oder wenn Patricia Blanco ihrem Vater die Nichtexistenz wünscht) und ganz nebenbei die ersten Sympathieträger etabliert: Die rührende Selbstreflexivität von Rebecca = sympathisch. Die Verlorenheit von Benjamin = sympathisch. Die „Tolle Herausforderung. Ich helfe allen“-Attitüde von Jörn = unsympathisch. Das permanente Gemoser von Walter = unsympathisch. So macht Trash-TV Spaß, so soll Trash-TV sein, auch wenn die geistfreie Unterhaltung immer wieder durch nervige – weil viel zu clevere – Momente der hauseigenen Selbstironie durchbrochen wird.

Gleichzeitig zeigt sich in dieser – gedankenverlorenen Spaß ermöglichenden – Repetition aber auch bereits das Dilemma des Dschungelcamps: Ich hatte eigentlich vor, dieses Jahr zum zweiten Mal das Format so gut wie möglich komplett zu verfolgen. Und ich frage mich jetzt bereits: Kann ich das? So schön es ist, alte Bekannte wieder zu treffen (Larissa in der Maske von Sara, Glatzeder in der Maske von Walter usw.), so sehr spüre ich bereits in der ersten Folge Ermüdungserscheinungen. Und so konnte ich es mir dann auch gestern nicht verkneifen, während der ersten ööööden Dschungelprüfung hin und wieder zum wunderbaren Bertolucci-Meisterwerk „Die Träumer“ rüberzuzappen, zwischendurch die Wii U anzuwerfen (Off-TV-Play rockt!) oder auf meinem Handy nach den „Karrieren“ der Teilnehmer zu googlen. „Ich bin ein Star, holt mich hier raus!“ scheint mir vor allem beim ersten Schauen einen ganz eigenen Zauber zu versprühen. Kennt man indes die Zutaten dieses Zaubers (C-Prominenz, Stereotype, dumme Dialoge, Selbstironie) wirkt er ein wenig wie die überflüssige Wiederholung eines bereits bekannten Bühnentricks, bei dem einen das Verschwinden der Münze oder Auftauchen der richtigen Karte nur noch ein müdes Lächeln entlockt.

Naja, mal schauen: Vielleicht bleiben die Sendung und ich auch im Jahr 2 unseres Beisammenseins Freunde. Immerhin widme ich ihr heute sogar über 1500 Wörter (und damit mehr als so ziemlich jeder andere Text zu der ersten Folge der neuen Staffel, den ich bisher überflogen habe). Aber ob ich wirklich so viel Spaß haben werde wie letztes Jahr, sei mal dahin gestellt. Immerhin werde ich am Montag auf der Arbeit dann die Frage „Und, habt ihr Dschungelcamp gesehen?“ mit einem fröhlichen „Ja“ beantworten können, auch wenn das anschließende Gespräch wohl nicht ohne philosophische, analytische sowie sozial- und medienkritische Gedanken und Bezüge auskommen wird. Dass es mir am Freitag gelungen ist, die größte Zeit über tatsächlich wie ein Zombie vor dem Fernseher zu sitzen und mich einfach nur von der Sendung berieseln zu lassen, muss dabei ja keiner wissen.

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