Ad Astra (2019) – Science Fiction, Psychologie, Philosophie und Realismus

Das Ende einer Dekade lädt ja immer gern dazu ein, auf das Jahrzehnt als ganzes noch einmal zurückzublicken. Schauen wir uns doch mal das Science Fiction Genre der letzten zehn Jahre an. Die beiden größten Trends hier waren wahrscheinlich die durch The Hunger Games (2012) inspirierte große Welle an dystopischen Epen mit Teenager-Protagonisten und das große Superheldenrevival durch das MCU, das durch Avengers: Infinity War (2018) und Endgame (2019) einen ersten würdigen Abschluss erhielt. Der Weltraum als Sehnsuchtsort ist zwischen den beiden Schwergewichten Endzeit und Superheldenkosmos allerdings ein wenig untergegangen. Klar, es gab die große neue Star-Wars-Trilogie, Ridley Scott versuchte mit Prometheus (2012) die Alien-Saga wiederzubeleben und Kritikerdarling Christopher Nolan schickte mit Interstellar (2014) ebenfalls ein Weltraumepos ins Rennen. Trotzdem dürfte der erste Gedanke zu Science Fiction in den 2010er Jahren nicht in die Weiten des Alls zeigen, sondern viel mehr in die Weiten einer parabolischen (meist düsteren) Zukunft. Die dem Genre immanente Sehnsucht galt nicht fernen Sternen, sondern eher übermenschlichen Kräften und magischen Fähigkeiten.

Am Rande dieser Blockbustertrends, aber immer noch sicher in die Produktion der großen Filmstudios gebettet, haben sich in den 2010er Jahren zwei Genrevariationen mit klarem Weltraumfokus ziemlich tapfer geschlagen: Der realistische Science Fictioneer und der philosophische Science Fictioneer. Für den recht soliden Nachschub beim ersteren dürfte der überraschend gute und überraschend erfolgreiche Gravity (2013) verantwortlich sein. In seinem Rückenwind schafften es unter anderem der naturalistische Alien-Klon Life (2017) und Ridley Scotts Robinsonade Der Marsianer (2015) im Kino und bei der Kritik ordentlich abzuschneiden. Zweiteres wurde vor allem durch Arrival (2016) populär, war aber mit Filmen wie Another Earth (2011) und dem schon erwähnten Blockbusterepos Interstellar ebenfalls das gesamte Jahrzehnt über präsent.
James Grays Ad Astra (2019) ist vielleicht so etwas wie ein Schlusspunkt unter das Jahrzehnt dieser beiden Genreableger. Er verknüpft nämlich beide Trends miteinander: Die Suche nach dem Realismus und die Suche nach tiefer Wahrheit irgendwo in den Weiten der Galaxie.

Der Weltraumingenieur Roy McBride (Brad Pitt) gehört Dank seines Stoizismus zu den besten seiner Zunft. Egal ob es um Reparaturen am oberen Rand der Atmosphäre geht oder um lebensbedrohliche Ausnahmesituationen wie den Sturz aus extremer Höhe, stets bleibt er ruhig und konzentriert, mit einem stabilen Puls von 80 und immer dem Überblick darüber, was als nächstes getan werden muss. Diese Distanz zu den eigenen Emotionen fordert allerdings einen hohen Preis: Roy ist unfähig, Verbindungen zu anderen Menschen aufzubauen, seine Ehe ist in die Brüche gegangen und er lebt nur noch für seinen Beruf. Als die Erde von verheerenden elektromagnetischen Stürmen heimgesucht wird, beauftragt die Weltraumbehörde SpaceCom Roy damit, den existenzbedrohenden Energiewellen auf den Grund zu gehen. Ihr Ursprung wird beim Neptun vermutet, wo Roys Vater Clifford (Tommy Lee Jones) vor 20 Jahren bei einer Forschungsmission verschwunden ist. SpaceCom glaubt, dass er noch lebt und die Bedrohung der Erde zu verantworten hat. Und so begibt sich Roy auf eine Reise in die Tiefen der Galaxie und zu den Schatten seiner eigenen Vergangenheit.

Und genau das ist dann Ad Astra auch fast seine gesamte Laufzeit lang. Der Film einer Reise, sowohl ins Äußerste als auch ins Innerste. Als wäre er ein Road Movie ohne Straßen folgt er Roy auf seinem Weg über klar abgegrenzte Stationen; von der Erde zum Mond, vom Mond zum Mars und schließlich weiter zu den äußeren Punkten des Sonnensystems. Die Bewegung ins Unbekannte steht dabei stets im Mittelpunkt. Ad Astra atmet den Geist der spätkolonialistischen Reiseliteratur des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Wie in den Romanen eines Joseph Conrad begleiten wir den Protagonisten auf seinem Weg in nur scheinbar erschlossenes Gebiet und werden dabei immer wieder mit dem Widerspruch zwischen Erwartung und Sehen konfrontiert. Roy – mit einer unfassbar enervierenden Ruhe herausragend verkörpert von Brad Pitt – glaubt lange zu wissen, wie das Weltall funktioniert, wie sich Menschen im Weltall verhalten und wie sich Konflikte lösen lassen. Dieses Selbstbewusstsein wird sukzessive in Frage gestellt, wenn Roy immer und immer wieder mit den Grenzen seiner Selbstwahrnehmung konfrontiert wird.

Dies ist auch der Punkt, an dem die Reise ins Äußere zur Reise ins Innere wird. Wir können uns der Wahrnehmung des Protagonisten nicht entziehen: Der innere Monolog, von Anfang an präsent, bildet einen festen Rahmen für die Handlung, gleichsam offenbart er auch immer seine Brüchigkeit: Denn wenn Roy seinem Blick nicht mehr trauen kann, wie können wir dann Roys Erzählung trauen? Man kann Ad Astra durchaus den Vorwurf machen, dass er mit seiner radikal subjektiven Off-Narration zu geschwätzig daherkommt, dass ihre Weisheiten zu platt, banal und kitschig sind, dass zu viel von dem, was in Roy vorgeht, auf platteste Weise durch den Off-Sprecher Roy erklärt, analysiert und sogar interpretiert wird. Das wäre aber nur die halbe Wahrheit. Die Geschwätzigkeit der inneren Stimme wird stets von Zweifeln begleitet. Zuerst kaum spürbar, subtil eingeflochten in die kalte Distanz, die Roy jedem und allem entgegenbringt, im Laufe des Films aber immer spürbarer, bis zu dem Punkt, an denen sich der Erzähler des Films selbst dekonstruiert. Ad Astra ist auch ein Film der sich auflösenden Sicherheiten, konfrontiert mit der weiten Leere des Weltalls.

Umgesetzt wird dies in atemberaubenden, durchaus auch eskapistischen Weltraumbildern. Kameramann Hoyte van Hoytema, der bereits Nolans Interstellar und Dunkirk zu einem ganz besonderen visuellen Trip machen durfte, scheint sich am wohlsten zu fühlen, wenn er große Leeren einfangen kann. Dabei ist es nicht einmal nur der Weltraum, der hier beeindruckend in Szene gesetzt wird: Einsamkeit, Verlassensein, die Konfrontation mit sich selbst und einer alles aufsaugenden Umgebung, diese Motive werden im Kleinen wie im Großen beeindruckend auf die Leinwand gebracht. Egal ob auf einer Weltraumstation, in der Fahrt auf Mondmobilen oder im engen Raum einer startenden Rakete, van Hoytema gelingt es auf kongeniale Weise Klaustrophobie und Agoraphobie zu vermählen. Je weiter sich der Horizont öffnet, um so enger scheint es um die Personen zu werden, die er verschlingt, je heller die Sterne funkeln, um so dunkler erscheint das Nichts um das Subjekt herum. Ad Astra ist immer auch ein Tanz der Kamera um das Weite, Leere und zugleich die Enge, die das Weltall mit sich bringt. Allein Dank dieser Bilder bewegt sich Ad Astra auch stets an der Schwelle zum Weltraumkitsch, zur eskapistischen Kubrick-Epigonie, aber es gibt zwei Dinge, die ihn nie in den spirituellen Pathos kippen lassen, so wie es noch seiner Schwester im Geiste Interstellar widerfahren ist:

Zum einen wäre da sein Realismus. Dieser äußert sich – im Gegensatz zu Interstellar – nicht nur in technischer Präzision, die genrebedingt eben doch an ihre Grenzen stoßen muss, sondern in der protokollarischen Trockenheit mit der die Reise lange Zeit begleitet wird. Weder vom Protagonisten noch seinen Weggefährten und Weggefährtinnen ist eine Spiegelung oder gar Evokation des Zuschauererstaunens zu erwarten. Ganz im Gegenteil. Die Reise ins All geschieht nach einem festen Fahrplan, der weder durch Staunen noch Begeisterung noch Ehrfurcht durchbrochen werden darf. Schnell wird deutlich, die Nüchternheit Roys hat Methode, die Ausschaltung des Emotionalen ist nicht nur seiner Persönlichkeit sondern der generellen Konzeption des Weltraumreisens geschuldet. Und alle Reisenden folgen diesem Konzept. Dadurch entstehen in den Cockpits der Raumschiffe, den Wartesälen der Weltraumflughafen und vor dem Panorama des unendlich weiten Alls Dialoge, die in ihrer kompakten technischen Form so nah an der heutigen NASA-Sprache sind, wie es zuletzt wohl bei Gravity zu sehen war. Das zweite erfolgreiche Gegenmittel zur Kitschwerdung ist der finale Twist, mit dem Ad Astra seine Reise ins Herz der Finsternis an den Rand des Sonnensystems abschließt. Hier werden die zuvor aufgeworfenen Motive wie der Vater-Sohn-Konflikt, die Rolle der Menschheit im Kosmos und die Suche nach mehr in den Weiten des Alls auf überraschend unprätentiöse Weise aufgelöst. So sehr Ad Astra in der Bildsprache zwischenzeitlich Vorbildern wie 2001: A Space Odyssey (1968), Solaris (1972) oder Contact (1997) nacheifert, so radikal distanziert er sich in seiner Schlusspointe von den philosophischen SciFi-Schwergewichten. Dabei ist die Erkenntnis, die er von seiner Reise mitbringt keineswegs weniger erschreckend oder ehrfurchtseinflößend wie die der Klassiker, aber auf eine solch andere Art beängstigend und faszinierend, dass es dem aufmerksamen Zuschauer den Atem verschlägt.

Ad Astra ist ein fantastischer Hybrid aus realistischem und philosophischem Weltraumtrip, der sich seiner Referenzen stets bewusst ist, diese aber nicht bis auf die Knochen ausweidet. Stattdessen erzählt er auf eigene Weise eine faszinierende Reise, die sowohl Flucht als auch Suche ist, Konfrontation und Entdeckung. Und selbst wenn er dabei hin und wieder den Boden unter den Füßen verliert, zu sehr in seine Bilder und Seelenschau verliebt ist, so bleibt er doch eine Wucht von einem Science-Fictioneer, der die gute Performance dieses Genres in den letzten Jahren auch im Jahr 2019 würdig weiterführt.

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