Die besten Epen und Historienfilme der 90er Jahre

Wie schon im letzten Jahrzehnt sind die Epen als Filmgenre schwer zu greifen: Groß, bombastisch, pompös, meist historisch, oft bilderverliebt und grundsätzlich immer mit gigantomanischem und universellen Anspruch. Manchmal eskapistisch, manchmal aber auch düster und realistisch, manchmal sogar introspektiv… Aber irgendwie immer ein bisschen größer (und oft genug länger) als das, was es sonst im Kino zu sehen gibt. Here they come…

Die Bartholomäusnacht [Patrice Chéreau]

(Frankreich 1994)

Die Geschehnisse um das Massaker an über 1000 Hugenotten im 16. Jahrhundert, gehört zu den dunklen Kapiteln der europäischen Geschichte. Patrice Chéreau hat den brutalen Pogrom nach einer protestantischen Hochzeit in Paris in dunkle, blutige und zugleich epische Bilder getaucht. Zwischen bombastischem, akribischem Kostümfilm und düsterem apokalyptischen Wahn funktioniert der brutal exakte Reigen nicht nur als großes Historienspektakel sondern ebenfalls als universelle Metapher auf Abgründe in der menschlichen Kultur, Gesellschaft und Seele. Ein ebenso beeindruckender wie schockierender Film, zwischen monumentaler Geschichtsverarbeitung, blutiger Parabel und allgemeinem, humanistischen Lehrstück.

Ihre Majestät Mrs. Brown [John Madden]

(Großbritannien 1997)

Weniger brutal, dafür mindestens genau so akribisch und detaillverliebt ist das britisch/irisch/amerikanische Historiendrama „Ihre Majestät Mrs. Brown“, das sich um die platonische Beziehung zwischen Königin Victoria (1819 – 1901) und ihrem schottischen Diener John Brown  in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dreht. Dabei steht hier – trotz satter, opulenter Optik – weniger die große Kostümschau im Mittelpunkt als vielmehr der genaue Blick auf Mentalitäten der viktorianischen Epoche. „Mrs. Brown“ schildert diese eindrücklich, ohne Hektik und dadurch mit viel Empathie für und geduldsamem psychologischen Blick auf seine Protagonisten. Ein eindrucksvolles Epos, das von seinen hervorragenden Dialogen und dem ausgesprochen stilsicheren psychologischen Feintuning lebt.

Titanic [James Cameron]

(USA 1997)

Ach, eigentlich ist es viel zu einfach über James Cameron zu lästern… auch über Titanic. Natürlich heißt es hier „Style over Substance“, natürlich ist die Charakterisierung der Protagonisten recht eindimensional und dünn, natürlich ist Titanic in erster Linie eine vollkommen aufgebauschte Romanze… Aber: Diese Detailverliebtheit! Diese Opulenten Bilder! Die akribische Orientierung an historischer Ästhetik! Titanic ist DIE Referenz, wenn es um genaueste Abbildung historischer „Bauten“ in den 90er Jahren geht. Dabei werden sogar die kleinen Ungereimtheiten, nach denen ziemlich lange gesucht werden muss, zur Nebensache. Denn Titanic bildet mehr als ab: Der Film erfasst den ästhetischen Geist der dargestellten Epoche, taucht tief hinab in dessen Prunk und Eskapismus, erzählt in diesem eine berauschende, epische Geschichte und liefert gleich darauf noch eines der größten Schlachtfeste des Monumentalfilms nach, ohne dabei eine Schlacht zeigen zu müssen. Ein gewaltiges, beeindruckendes Hollywoodepos, dessen dramaturgische Oberflächlichkeit durch die ästhetische Tiefe mehr als kompensiert wird.

Michael Collins [Neil Jordan]

(Großbritannien 1996)

Ebenfalls in den Fahrwassern des klassischen Monumentalfilms bewegt sich das kurzweilige und unterhaltsame Epos  „Michael Collins“, in dessen Zentrum der irische Unabhängigkeitskampf zu Beginn des 20. Jahrhunderts steht. Wie die Vorbilder aus Hollywood gelingt es dem britischen Historiendrama nicht, auf eine gewisse Schwarzweißmalerei zu verzichten. Der tapfere Protagonist wird in schillernde Farben getaucht, stilisiert und mystifiziert, genauere Persönlichkeitsprofile gibt es keine, und wenn überhaupt, wird psychologisch gerade mal an der Oberfläche gekratzt. Aber die herausragende Schauspielleistung Liam Neesons, die gediegene – zwischen klassischer britischer Nobless und Hollywood pendelnde – Inszenierung sowie die packenden, epischen Bilder machen das mehr als wett. Ein spannendes Epos, jüngster europäischer Geschichte.

Kundun [Martin Scorsese]

(USA 1997)

Martin Scorsese hatte schon immer ein Händchen für große religiöse Parabeln und epische Bilder, selbst in seinen kleinsten, einfachsten Geschichten. Bei der Verfilmung des Lebens des Dalai Lama klotzt er auch dementsprechend. Zwischen Authentizität und euphorischer Überstilisierung pendelt sich das Biopic konstant bei einem berauschenden Epos ein, das sowohl erzählt als auch bloß bebildert, episodisch genau aufarbeitet und zugleich in abstraktem Symbolismus schwelgt. Eine tiefe, leidenschaftliche Verbeugung vor dem Buddhismus, vor der Spiritualität des Ostens und zugleich ein Aufschrei gegen Unterdrückung und Barbarei. Dagegen hat das vergleichbare – ebenfalls gelungene –  Tibetepos „Sieben Jahre in Tibet“ keine Chance.

Amistad [Steven Spielberg]

(USA 1997)

Im Laufe der 90er Jahre hat Spielberg seine Faszination für historisch schwere Stoffe und deren Aufbereitung für ein Mainstreampublikum entdeckt. Neben Qualitativ weit vor „Schindlers Liste“ gelang ihm dies mit dem im Jahre 1839 angesiedelten Sklavendrama Amistad, das die realen Geschehnisse um den gleichnamigen Gerichtsprozess thematisiert. Packend pendelt das epische Drama zwischen Gerichtsfilm, historischer Aufarbeitung und emotionaler Parabel. Spielbergtypisch blitzt auch hier die Hollywoodinszenierung – inklusive Sentimentalität und Over the Top Melodramtik – an jeder Ecke durch. Diese ist aber – ebenfalls Spielbergtypisch – derart effektiv, auch im Überbringen ihrer humanistischen Botschaft, dass man ihr kaum böse sein kann.

Himmel über der Wüste [Bernardo Bertolucci]

(Italien, Großbritannien 1990)

Bernardo Bertolucci, mit dem wunderschönen „Die Träumer“ bei den besten Erotikfilmen der 00er Jahre vertreten, wusste auch in den Jahrzehnten zuvor herausragende, hinter ihrem einfachen Ästhetizismus höchst komplexe Bilderwelten zu erschaffen. Der Himmel über der Wüste pendelt zwischen großen Wüstenpanoramen und diffiziler, komplexer Charakterstudie. Ebenso wie sich seine Protagonisten in der beeindruckend bebilderten, öden Wüstenlandschaft verlieren, verlieren sie ihre sozialen Konditionierungen, ihre Sitten, ihre sozialkonformen Verhaltensweisen. So wird das Wüstenepos zu einem symbolischen Trip ins weltliche und menschliche Herz der Finsternis, zu einer ebenso eskapistischen wie schmutzigen und impressionistischen Parabel, in der sich der innere Wandel in der archaischen, gnadenlosen Umgebung widerspiegelt. Ebenso fesselnd wie wunderschön, ebenso ästehtizistisch, berauschend wie gnadenlos und unbarmherzig.

Braveheart [Mel Gibson]

(USA 1995)

Ja, Mel Gibson könnte man schon irgendwie als ‚Arsch‘ bezeichnen… ändert aber nichts an der gewaltigen Kraft des überbordernden Schlachtenepos Braveheart, in dessen Zentrum der Freiheitskampf der Schotten gegen die englischen ‚Besatzung‘ im 13. Jahrhundert steht. Die Geschichte ist hier aber eigentlich ebenso irrelevant wie die Holzhammersymbolik von der universellen Freiheit. Im Zentrum steht einzig die epische Gewalt, die monumentale Brutalität, mit der Gibson sich selbst in seiner Kriegerballade vorantreibt. Vollkommen over the Top, das versteht sich von selbst, aber so verdammt fantastisch inszeniert, packend gespielt, groß bebildert, dass spätestens der berühmt gewordene „Freiheeeeeeit!“-Schrei Gibsons jedem Zuschauer eine Gänsehaut über den Rücken jagt. Historie komplett an der Oberfläche, aber unterhaltend und mitreißend wie sonst nur selten.

Elizabeth [Shekhar Kapur]

(Großbritannien 1998)

Das monumentale Epos „Elizabeth“ reduziert die britische Geschichte des 16. Jahrhunderts voll und ganz auf das Leben und Wirken seiner jungen Protagonistin Elisabeth I. Und warum darf er das? Weil Cate Blanchett  die große Monarchin mimt. Cate Blanchett!! Es ist kaum in Worte zu fassen mit welch starker, kalter und zugleich beeindruckend emotionaler Performance die britische Schauspielerin diese mythisch überhöhte Figur zu meistern weiß. Da geraten die überopulenten Bilder, der Spaß an Pomp und Gloria sowie die düsteren, rohen Mittelaltereinschübe fast zur Nebensache. Ebenso das übervolle Setting, die vollgepropfte Dramaturgie, die unersättliche Atmosphäre. Verdammt: Cate Blanchett!! Hier vielleicht in der besten weiblichen Schauspielleistung der 90er Jahre überhaupt zu sehen, zu bestaunen und zu erleben. Cate Blanchett!!!

In einem fernen Land [Ron Howard]

(USA 1992)

Noch so ein Film über den man gerne lästern würde… Allein schon weil mit Tom Cruise und Nicole Kidman das Nervehepaar der 90er schlechthin mitspielt. und natürlich, weil er von „Style over Substance“-Regisseur Ron Howard stammt. Aber „Far and away“ ist gut, verdammt gut. So gut, dass ich ihn ohne mit der Wimper zu zucken zu den unterbewertetsten Filmen der 90er packen würde. Ein sauberer Mix aus epischem Neue Welt Drama, realistischem Spätwestern, herrlich melodramatischem Hollywoodepos und nicht zuletzt einer schönen, herrlich naiven Liebesgeschichte. Und er macht in all diesen Genres einfach eine unglaublich gute Figur. Gerade dank der ruhelosen, episodischen Erzählweise, dem Aufnehmen und Abbrechen von Handlungsfäden und dem damit einhergehenden, ständigen und mühelosen Setwechsel ist „In einem fernen Land“ ein herausragender Bilderbogen der USA im 19. Jahrundert. Bunt, voll, satt und mordsunterhaltsam.

Jurassic Park [Steven Spielberg]

(USA 1993)

Genau! Warum steht der eigentlich nicht bei den Fantasyfilmen? Oder wenigstens Science Fiction? Oder bei den Actionfilmen, immerhin hat er doch einige Verfolgungsjagden und Explosionen zu bieten? Seien wir ehrlich: Was uns an Jurassic Park am meisten begeistert hat, war weder die – gar nicht so fantastische, sogar einigermaßen realistische –  Disposition, waren weder die lauten Actionsequenzen noch die spärlichen Horrormomente und erst Recht nicht der kaum zum Tragen kommende Science Fiction Aspekt… Es waren die großen, für damalige Verhältnisse schier atemberaubend designten Dinosaurier und das vor allem, weil sie sich in einem fantastischen, pompösen Setting bewegten. Episch eben. Die ganze Hintergrundgeschichte, die Angst vor dem T-Rex und den noch fieseren Velociraptoren… geschenkt! Jurassic Park lebt von seinen Landschaften, von seinen gigantomanischen Weiten, dem ebenso epischen wie fatalen Traum, dass der Mensch Gott spielen kann und von der visuellen Umsetzung des Selben. Der Rest ist nette und spannende Sci Fi Thriller Ware von der Stange. Und genau deswegen hat er nur hier zu stehen, und nirgends sonst. Als Epos nach wie vor eine der großen 90er Jahre Referenzen.

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Erstveröffentlichung: 2011